Ein Plädoyer für eigenständiges Denken
Erschienen beim Piper Verlag
(Rezensionsexemplar)
Unsere westlichen Gesellschaften im Kampfmodus
Unsere Gesellschaft steigert und spaltet sich immer extremer im Streit. Es erscheint, dass die verschiedenen Pole sich immer unversöhnlicher gegenüberstehen! Ein Stein z.B. des Anstoßes: Political Correctness der Sprache! Aber geht es hier überhaupt um Sprache? Geht es nicht darum bestimmtes Denken, bestimmte Meinungen zu verbieten? Geht es um die Sprachpolizei oder gar um orwelsches Neusprech? Woke-Sprache oder Intoleranz? „Cancel Culture“ ist das Reizwort! Und Julian Nida-Rümelin nähert sich diesem Thema philosophisch gekonnt und souverän. Mutig ist ein solches Buch zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft, denn es gleicht emotional bei vielen Gruppierungen in unsrer Zeit einem Minenfeld. Dazu geht Nida-Rümelin geschickt in die Geschichte der Philosophie. Die Beispiele wirken oft wie Analogien. Deutlich wird, dass es den Versuch, unliebsame Meinungen moralisch zu unterbinden – ja, eventuell sie ganz auszulöschen, immer schon gab. Nida-Rümelin hilft mit seinem Weg dem Thema etwas die vorgefertigte emotional verkrustete Meinung zu nehmen. Es wird wieder sachlicher! Wir beginnen uns kritisch mit der Methode auseinanderzusetzen und sind weniger in z.B. Geschlechts- und/oder Gesellschaftsdebatten.
Cancel Culture – eine lange Geschichte der Menschheitsgeschichte
Vom Scherbengericht bis zur Verbannung oder gar dem Mord, haben Menschen oft (unter dem Deckmantel einer Meinung mit Gefahrenpotential entgegenzuwirken) andere Meinungen getilgt, sie irgendwie zum Schweigen gebracht. Dem hält Nida-Rümelin die Aufklärung entgegen – die Aufklärung, die Aberglaube, Pseudowissenschaften, Ideologien und menschenunwürdigen Praxen entgegentritt. Er läuft geschickt durch die Geschichte der Philosophie und zeigt pointiert an den großen Namen wie Platon, Aristoteles, Hobbes, Locke, Kant, Rawls, etc., dass diese sich immer schon damit auseinandersetzen mussten, wieviel Pluralismus, Freiheitsrechte eine Gesellschaft vertragen können muss.
Aber bei der historischen Betrachtung von Cancel Culture müssen wir auch die Dogmen der abrahamitischen Religionen durchleuchten, die uns bis heute prägen – geschlossene Gesellschaftsbilder, die viele Menschen wieder anziehen. Dies ist das Gegenteil von Aufklärung, Toleranz und Demokratie! Dies ist eine betonierte Sicht auf die Welt.
Ein aktuelles Philosophiebuch!
Das Buch ist ein Spaß und eine Bereicherung für jeden, der Philosophie mag und der von ihr Antworten auf die großen Kämpfe in unserer Gesellschaft haben möchte! Es zeigt die Notwendigkeit der Philosophie in unserer Zeit (Anmerkung: Obwohl in den Büchereien ihre Abteilungen immer weiter schrumpfen). Der philosophische Weg kann in der hitzigen, aufgeladenen Debatte rund um „Cancel Culture“ die Gräben und Konflikte wohl am ehesten Überwinden, denn sie musste dies schon oft in der Menschheitsgeschichte!
Nida-Rümelin macht klar, dass wenn die Ideologie oder persönliche oder religiöse Dogmen als wichtiger und höher angesehen werden als die wissenschaftliche, rationale Beweisführung, als wissenschaftliche Fakten, dann liegt Cancel Culture vor, dann werden Meinungen nicht widerlegt, sondern bekämpft, mit dem Ziel diese zu vernichten.
Cancel Culture wird so eine Bedrohung für die Demokratie und er merkt an: „Die aktuell größte Gefahr für die Demokratie …geht nicht von linker Cancel Culture aus, sondern …von rechtspopulistischen Kräften. Diese werden allerdings durch kulturelle und politische Fehlentwicklungen gestärkt, zu denen … Cancel Culture gehört.”
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