Roman Orlando | Virginia Woolf Textopfer, Juli 21, 2024 Als ich diesen Blog einmal gestartet habe, war ganz klar ein Ziel – neben vielen nie bewusst gewählten Zielen -, dass ich besondere Bücher vorstellen wollte. Heute habe ich mir für die Jubiläumszahl 250 sehr bewusst Virginia Woolfs großes, Werk „Orlando“ ausgesucht. Eigentlich sollte man überhaupt nicht versuchen, die literarische Kunst einer Virginia Woolf vorzustellen, sondern einfach das Werk empfehlen und es vollkommen für sich selbst sprechen lassen. Aber das schaffe ich dann doch nicht. Man möge mir verzeihen! Virginia Woolfs „Orlando“ ist in seiner Sprache, seinen Beschreibungen, Vergleichen und Wortwitz, ein literarisches Kunst- und Meisterwerk. Aber vor allem das Thema der Geschlechtlichkeit katapultiert das Buch quasi in unserer Zeit! Macht es modern und gleichzeitig so wunderbar zeitlos! Orlando, der einst ein Mann war, verändert sich im Laufe des Buches zur Frau. Die Gründe nennt die vermeintliche Biografie nicht, aber diese sind auch nicht wichtig. Woolf schockiert damit 1928, heute zeigt sich ihre Vordenkerrolle. Das Relativieren des Geschlechts ändert alles literarische Denken rund um die Statik von Protagonisten. weiterlesen
Roman Ein sanfter Mann | Uwe Appelbe Textopfer, Juni 23, 2024Juni 23, 2024 Schicksalsschläge fragen nicht, ob sie in unser Leben kommen dürfen – sie kommen unerwartet, ungefragt und so unverständlich für die, die sie treffen. So ergeht es René Sander. Ein junger Mann, dessen Frau plötzlich – ohne vorherige Symptome, ohne Vorwarnung – am Sekundentod stirbt. René sucht nach dem Grund, warum jemand stirbt. Er sucht die Antwort dieser tiefst philosophischen, existenziellen Frage, um zu verstehen, um akzeptieren zu können. Da treten die junge, mysteriöse Gertrud und ihre kleine Schwester Katharina in sein Leben. Sie ziehen in die freien Räume in sein Haus, die er untervermietet. Er hat schnell das Gefühl Gertrud verfallen zu sein. Sein Blick ist nach wie vor zurück auf seine Frau Ruth gerichtet, aber die junge Frau und das Kind wecken irgendwie seine Lebensgeister. Der sanfte, trauernde René zahlt Gertrud dafür, dass sie des Abends die Kleider seiner verstorbenen Frau Ruth trägt. Es gibt ihm das Gefühl, dass Ruth wirklich existiert hat. Uwe Appelbe erzählt eine eigenwillige und bei weitem nicht vorauszuschauende Geschichte. Er lässt sie wie in einem Prozess laufen – das macht sie und ihre Personen ein wenig wie unberechenbar. weiterlesen
Roman Im Takt des Lebens | Isabella Völkl Textopfer, Mai 10, 2024Mai 10, 2024 Isabella Völkl hat das Beste getan, wie man mit den Krisen des Lebens umgeht. Sie hat daraus ein Buch gemacht. Somit hat sie uns ein kurzes, besonderes Werk geschenkt, in dem sie ihre Gedanken und dramatische Geschichte mit Sprachkunst erzählt – uns näherbringt und uns näherkommen lässt. Die großen Wendungen und Krisen können uns weiser machen, wenn wir sie als symptomatisch für das Leben begreifen. Dies ist Isabella Völkl in ihren düsteren Stunden gelungen. Der Auftakt ihres Buches klingt wie eine düstere Prophezeiung, obwohl sie selbst betont, dass das Buch positiv wirken soll. Es soll positiv zum Leben stehen. Ein Leben, das inmitten der Vielzahl von Leben hier bei uns existiert. weiterlesen
Roman Der Fänger im Roggen | J.D Salinger Textopfer, April 28, 2024April 28, 2024 Viel ist geschrieben worden über den Fänger im Roggen und wer ist eigentlich dieser Holden Caulfield. Dieser Ich-Erzähler, Teenager, der uns ganz unverblümt sagt, dass er nun mal immer lügt. Und dies zieht er in einer großmäuligen Art durch den gesamten Roman. Und dazu passiert auch nicht viel und es vergeht nicht viel Zeit – nur ein Wochenende. Aber dieser verlogene, großmäulige Teenager hat seinen eigenwilligen (oft arroganten) Blick, entwickelt seine Ansicht, wird unterschätz, schlägt quer und äußert dann plötzlich eine zutiefst dunkle Philosophie. J.D. Salingers Werk ist eine große Fundgrube – auch nach über 70 Jahren. Und dies nicht nur für die Menschen, die sich als gebildet und intellektuell ansehen und somit Klassiker lesen. Nein, auch nach wie vor für junge Menschen, die am Start des Lebens sind. Ein dynamischer Klassiker, der das Kontroverse nicht verloren hat. Auch, wenn die Zeit fern ist – seine Haltung ist generationsübergreifen und wahrscheinlich auch für GenZ eine Fundgrube: „Manchmal benehme ich mich um einiges älter, als ich bin – wirklich -, aber das merkt dann bloß keiner. Die Leute merken nie was.“ Holden ist halt zeitlos als junger Mensch sehr klar und unterhaltsam: „Aber man weiß nie – bei der Mutter von jemand, meine ich. Mütter sind alle leicht gestört.“ weiterlesen
Roman Wie ich unsterblich wurde | Nero Campanella Textopfer, Dezember 17, 2023Dezember 17, 2023 Wer will es nicht sein? Unsterblich! Unsterblich für die Menschheit! Das besondere Werk geschaffen, das vielleicht Jahrhunderte in die Menschheitsgeschichte nachhallte. Nero Campanella kreiert Decker, der eigentlich ein Dilettant ist, aber Großes in sich spürt. Er erklärt uns, wie er unsterblich wurde. Das Buch spielt während der Coronazeit und der Autor überfällt uns etwas damit, dass er die Hauptperson Decker vorstellt, indem er diesen sich erst einmal übergeben lässt. Decker ist ein etwas runtergerockter Typ. Aber auch ein etwas sensibler Mensch, dem bei heftigen Nachrichten direkt der Magen versagt. Nun ist er, Hegelianer und Schriftsteller, auf dem Weg ins tiefste Brandenburg – etwas fern ab. Eingeladen vom saarländischen Kultusministerium soll er ein Buch schreiben. In einer Villa mit einigen anderen Gästen, Pseudokünstlern, Pseudo Intellektuellen, haust er einige Wochen mit großem, kreativem Ziel. Decker hat sich nichts anderes vorgenommen als die Deutsche Gegenwartsliteratur in die Luft zu sprengen. weiterlesen
Roman Ich, Sperling | James Hynes Textopfer, Oktober 29, 2023Oktober 29, 2023 Bildung, Wissen, Ästhetik – dafür steht die Antike. Wir befinden uns in diesem Roman kurz vor dem Untergang diese Zeit, im 4. Jahrhundert nach Christ Geburt, im Süden des heutigen Spaniens – in Hispania. Wir befinden uns also kurz vor dem langen Schlaf der Kultur und des Wissens im kommenden Mittelalter. Auch Jakob, die Hauptperson, geht nicht mehr davon aus, dass seine Geschichte zukünftig von jemandem gelesen wird. Es erscheint, dass alles in Vergessenheit geraten wird. „Ich, Sperling“ ist ein eindrucksvoller, besonderer Roman in einer historischen Umgebung. Geprägt ist das Erzählen des Autors James Hynes durch eine fabelhaft lyrische, bunte, vielfältige und sehr ausgefeilte Sprache, voller intensiven Darstellungen, die sich in Momenten der Gewalt und des Sex plötzlich brachial und derb präsentierten kann. Das alles ist ausdrucksstark und verfehlt beim Leser nicht seine Wirkung. weiterlesen
Roman Da bin ick nicht zuständig, Mausi Textopfer, Oktober 23, 2023Dezember 26, 2023 Vorsicht, Vorsicht: Satire! Und sie nimmt sich nicht zu ernst!Was gibt es Deutscheres als die deutsche Verwaltungsbürokratie, getragen von einem starren Beamtenapparat, welcher scheinbar in einer penetranten Überreguliertheit das Leben der Bürgerinnen und Bürger immer weiter verkompliziert. Lebst du in Deutschland, so ist dies der Kampf, in dem jeder Bürger immer wieder bestehen muss! Und man kann sich aufregen – was wohl die erste Reaktion ist – oder einfach nur darüber lachen und mit viel, viel Ironie alles nicht zu ernst nehmen. Genau dies vermittelt Conny from the Block. Nun als Buch verpackt, was die Nation zuvor schon oft in Social-Media erleben durfte. Um jedoch den Tonfall, die comicgleichen Charaktere besser vor dem geistigen Auge spielen zu lassen, rate ich dringend, sich kurz vor der Lektüre einmal einige Sequenzen aus der Welt der „Conny from the Block“ auf YouTube oder Instagram anzuschauen. So wird die Ironie weitaus verständlicher. weiterlesen
Roman Die fernere Zukunft | Adam Thirlwell Textopfer, Oktober 8, 2023Oktober 8, 2023 Welch ein eigenständiges und eigenwilliges Werk hat uns Adam Thirwell durch diesen Roman geschenkt! Kraftvoll, dynamisch, wortstark, in einer zeitlosen und zeitweise skurril verknüpften Umgebung. Wir sind in Frankreich der Vorrevolution und Revolution und werden auch ins revolutionäre Amerika geführt, aber gleichzeitig sind wir auch in unserer „Jetzt-Zeit“. Ein revolutionärer Erzählansatz über eine Geschichte aus einer stürmischen Revolution, über den gelebten (vor allem hier feministisch gelebten) Willen, frei von gesellschaftlichen Konventionen zu leben. Und dies fordert vollkommen überraschende Reaktionen. Es liegt Veränderung, der Wille nach mehr als dem bisherigen Leben, in der Luft. Daher sind die Personen direkt und alles hinterfragend. Thirlwells Schreibstil ist stark, wie seine Hauptperson Celine. Er inszeniert sie durchweg in den extremen Emotionen der Jugend, auch wenn sie älter wird. Diese sind voller Leidenschaft, Gedanken an Sex, Wut und Rache. Celines Auflehnen findet intensive Frauensolidarität in ihrem Kampf gegen ein Patriachat, das als natürlich gegeben um die Ecke kommt und das man nicht unterschätzen sollte. weiterlesen
Dystopie The Marriage Act – bis der Tod euch scheidet | John Marrs Textopfer, September 17, 2023September 17, 2023 In seinem neusten genialen Werk hat John Marrs die dystopische „schöne neue Welt“, die uns durch die Digitalisierung und die Gefahren versagender Demokratien blühen kann, erneut fabelhaft auf den Punkt gebracht. Und ganz oft überkommt uns während des Lesens das Gefühl, dass wir sehr, sehr knapp vor dieser Welt stehen und wir schon in wenigen Monaten und Jahren in dieser Welt leben könnten. Das ist nicht das zeitliche Science-Fiktion-Katapult in eine ferne Zukunft in 200 oder 300 Jahren. Nein, das ist die mögliche, erdrückende Lebensrealität vielleicht im Jahr 2024 oder 2025. Und all dies hinterfragt unser Jetzt! Unsere naive Technikgläubigkeit, unseren eingepaukten Positivismus, in dem wir glauben, dass am Ende immer alles gut wird. Wird es aber nicht! weiterlesen
Roman Der Abstinent | Ian McGuire Textopfer, Mai 28, 2023Mai 28, 2023 Ich mag gut recherchierte historische Romane, die mal nicht an den typischen Orten (London, Rom, Paris) und mit den typischen, historischen Personen (berühmten Könige, überhaupt Blaublütern aller Zeiten, berühmten Politiker, etc.) spielen. Somit ist „Der Abstinent“ eine wunderbare, willkommene Abwechslung im Genre! Schauplatz hier ist eine der englischen Metropolen der Industriellen Revolution: Manchester in den 1860er Jahren. Eine schmutzige, laute, quirlige Stadt der Arbeiter und mittendrin der immer wieder aufkeimende Konflikt zwischen England und den Iren, die hier eine Art Enklave haben. Solch ein Ort in solcher Zeit ist Schmelztiegel der politischen Probleme, ist Schmelztiegel zischen „Oben“ und „Unten“, zwischen Bevölkerung und Staatsvertretern, zwischen den Nationalitäten. Wenn dann noch eine Winzigkeit geschieht, können schnell die sozialen Probleme alles zum Explodieren bringen. Somit sind hier Ort und Zeit eine geniale Wahl! weiterlesen