Es braucht nicht zu viel Vorstellungskraft, wenn man bei aller Bekanntheit und Popularität des Autors nur ansatzweise durchdenkt, wie hoch wohl der Druck auf Simon Beckett gewesen sein muss, nun, nach sechs Jahren einen weiteren Band der David-Hunter-Serie zu schreiben (Kurzgeschichte zum Thema nicht mitgerechnet). Wie mutig darf man da sein und neue Wege einschlagen, ungewohnte Wendungen? Und wie sehr sollte man in den gewohnten Gefilden eines “normalen “Thrillers bleiben, um das Publikum „mitzunehmen“. Zumindest mit der Wahl des Settings des Thrillers „Knochenkälte“ war Beckett weniger mutig. So lässt er Dr. David Hunter in einem Closed-Circle-Setting (oder Isolated Setting) recherchieren, einem Setting, das wir schon in klassischen Kriminalfällen von Agatha Christie und Steven King kennen. Der Held muss in einer räumlich von der Außenwelt abgeschnittenen Umgebung, auf sich alleingestellt, im Kreise einer sehr übersichtlichen Anzahl an Tatverdächtigen, ermitteln. Ständig ist er somit selbst gefährdet. Die Idee ist also wahrscheinlich so alt, wie das Krimi/ Thrillerschreiben überhaupt (und trotzdem lieben wir es immer wieder). Aber Beckett wäre nicht Beckett, wenn er dies nicht im Besonderen nutzt. Hier zeigt sich, dass ein Meister des modernen britischen Thrillers das „Heft in der Hand hält“. Nichts wirkt flach und konstruiert, sondern wir glauben unserem „Freund“ und altem Wegbegleiter „Dr. Hunter“ natürlich sofort die Geschehnisse, an denen er uns teilhaben lässt. Trotz unserem Wissen um Thrillerdramatik: Beckett lässt es leben, unterhält uns mit Spannung und wir müssen mit allem rechnen. Respekt, das funktioniert!
Die Buddenbrooks – Verfall einer Familie | Thomas Mann
Es erscheint in der großen weiten Welt der Bookblogger, Bücherliebhaber und -freaks so zu sein, dass wir alle nicht nur gerne Bücher lesen, sondern sie auch sammeln. Und zu dieser Sammelleidenschaft gesellt sich – wie automatisch – die Freude über „schöne Bücher“, die ihren literarischen (immateriellen) Wert, auch in Form, Druck, künstlerischer Darbietung, durchdachtem Design, ästhetischen und hochwertigen Material und vielem darüber hinaus, präsentieren. Ein solches exklusives Buch ist nun die Ausgabe zum 125-jährigen Jubiläum des Weltklassikers „Buddenbrooks“ von Thomas Mann.
Heute werde ich nur kurz auf den Inhalt oder den Autor eingehen, denn in der Welt der Buchbegeisterten muss ich wahrscheinlich wenig über den Inhalt des großen dramatischen Romans, noch über seinen Autor Thomas Mann erzählen. Beides ist internationale und (im Speziellen) deutsche Literaturgeschichte und wer es noch nicht kennt, dem rate ich wirklich dringend dies nachzuholen. Auch wenn das Werk in seinem großen Umfang uns fordert, auch wenn die Sprache Thomas Manns uns ebenfalls fordert, es ist nach wie vor eindrucksvoll, was mit und in unserer Sprache möglich ist.
Heute aber soll es, im Jahr des 150. Geburtstags Thomas Mann, vor allem um diese besondere Ausgabe gehen. Sie wird nun zukünftig als ein Highlight in so mancher unserer Bibliotheken – ja, als etwas ganz Besonders in den Zentren der Buchsammler stehen.
Ali Khamenei | Ali Sadrzadeh
Autor Sadrzadeh ist für uns ein Glücksfall
Ali Khamenei, der oberste religiöse Führer und somit die absolute Macht im Iran, ist wohl eine der undurchschaubarsten Persönlichkeiten dieses Landes. Sein Verhalten ist im Höchstmaß ambivalent. Hinter einer religiösen Fassade zeigt sich ein machtpolitisch gewiefter, flexibler, rhetorisch-trainierter Mann. Ali Sadrzadeh hat uns nun eine Biografie Khameneis vorgelegt, die uns diesen nicht nur als undurchsichtigen Politiker präsentiert, sondern eine Biografie, die uns die – für uns Außenstehenden – oft schwierigen Verhältnisse, Strukturen und Vorgehensweisen im Iran näher bring.
Autor Sadrzadeh (selbst mit iranischem Hintergrund) zeigt sich hier immer wieder als fabelhafter Guide für uns, der uns durch diese – doch so unbekannte – Welt, ihrer Selbstverständlichkeiten, Normen und Werte, aber auch ihre gefährlichen Fallen und Tücken für die handelnden Personen, führt. Es ist eine große Hilfe, den Iran durch einen solchen absoluten Kenner der Traditionen und der Kultur (vor allem der Sprache) kennenzulernen. Niemand sonst hätte uns wohl sonst erklären können, wie ein Mann, der ständig unterschätzt wurde, in den Wirren der revolutionären Jahre zum Ende der 70er hier an die Macht kommen, und diese nunmehr über 36 Jahre erhalten konnte.
Down Cemetery Road | Mick Herron
Ich muss zum Auftakt direkt zugeben, dass ich in der großen Welt der Literatur, den vor Jahren beginnenden Hype über Mick Herrons “Slow Horses” – trotz meiner riesigen Affinität zur Metropole London – verpasst habe. Ich wurde auf Herron erst aufmerksam, als die entspreche Streamingserie startete. Im Nachhinein – mit meinem heutigen Wissen über Herrons literarische Fähigkeiten – ist mir nun mehr als nur ansatzweise bewusst, welches intelligente, wunderbar ironische Lesevergnügen ich so wohl verpasst habe. Meine Reise durch „Down Cemetery Road“, welches nun ebenfalls ab dem 29.10.2025 auf Apple TV+ als Serie starten wird, hat mir verdeutlicht, dass ich dringend die anderen Werke Mick Herrons lesen muss.
Seine Sprache ist ein herrlicher Genuss. Der süffisante, britische (von Ironie und Sarkasmus geprägte) Sprachwitz oder auch die besondere Komposition des Aufbaus (seien es einzelne Szenen oder die Gesamtkonstruktion), sind eine perfekte Mischung aus Unterhaltung und Sprachkunst. All das zeigt einen Autor, der nicht nur geschickt einen Kriminalroman konstruiert, sondern narrenhaft den Spiegel über die absurden Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft vorhält. Und oft, ja sehr oft, treffen wir dabei skurrile Gestalten, wie wir sie kennen oder vielleicht gar uns selbst?
Tote Seelen singen nicht | Jussi Adler-Olsen, Line Holm, Stine Bolther
Man kann am Ergebnis der Zusammenarbeit von Autoren als Leser schwerlich feststellen, wer was im Buch geschrieben, erarbeitet oder konstruiert hat. Jedoch muss man schon zugeben, dass der neue Band über das Dezernat Q unverkennbar eine andere “Handschrift” trägt, als seine berühmten Vorgänger (was auch im Dankeswort deutlich wird). Dies soll bei weitem nicht negativ klingen, sondern es ist einfach eine faktische Feststellung. Die Fortführung des Sonderdezernats Q ist mehr wie ein Spin-Off der zehnteiligen Carl-Mørck-Serie anzusehen. Und in diesem Verhältnis zueinander funktioniert der Auftakt der neuen Bände, rund um Rose, Assad und der neu eingeführten französischen, mysteriösen Polizistin Helena Henry. Die Tradition ist klar gesetzt und man bleibt ihr hier treu. Aber – und das ist in Erzählweise und Konstruktion klar zu erkennen – ein neuer Geist ist eingekehrt. Es wird weiblicher, sei es in der Vorgehensweise bis hin zum Humor. Das alles, auch wenn die Geschichte sich rund um einige Männer und traumatische Kindheitserfahrungen im Internat eines Knabenchors drehen. Das Sonderdezernat Q für Cold-Cases schafft die Arbeit auch in (zu einem Drittel) neuer Besetzung, auf ihre uns bekannte eigene Weise.
Die dunkelste Stunde der Nacht | Ian Ranking
Es liegt nicht nur in meiner Affinität zu Schottland und im Besonderen zu Edinburgh. Nein, Ian Rankin schafft es nun seit 1987 (!) Detective John Rebus in Kriminalfälle, Lebenssituationen und -umstände zu verwickeln, die uns immer wieder aufs neue Mitnehmen. Rebus, seine Kollegin Siobhan Clarke und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen präsentiert Rankin als Charaktere mit Ecken und Kanten, ohne Stereotypen zu bedienen, aber auch sie (wie in manch anderem Thriller oder klassischen Krimi) als abgedrehte, unverstandene Einzelgänger mit überzogenem Profil und (fast) pathologischen Verhaltensweisen, darzustellen. John Rebus ist eignen, verliert sich und die Welt aber nicht durch oder in diesen Eigenheiten. Somit wird er für uns zu einem realistischen, ja liebenswerten Menschen, mit vielleicht mal dem einen oder anderen Spleen. Mehr auch nicht! Sein Verhalten ist nachvollziehbar. Er besitzt eine Zivilcourage, die klaren Normen und Werten folgt. Das macht ihn zeitlos, da dies wohl zu jederzeit „in“ ist. Auch in „Die dunkelste Stunde der Nacht“ wird es nicht langweilig oder eintönig – es bleibt spannend und wieder mal ganz anders als in den Bänden zuvor. Und das auch noch in Schottland – klasse!
Joseph und seine Brüder I | Thomas Mann
Von den Werken Thomas Manns, ist „Joseph und seine Brüder“ wohl eines der bedeutendsten, eindrucksvollsten und imposantesten. Auf jeden Fall ist es (mit seinen vier Romanen) das umfangreichste Werk. Im Mittelpunkt meiner Rezension steht der Auftakt, das heißt der erste Band mit den beiden Romanen „Die Geschichte Jaakobs“ und „Der junge Joseph“.
Manns erzählerische Kraft tritt uns schon zu Beginn, in der „Höllenfahrt“, entgegen. Ein Auftakt, der einer Ouvertüre einer großen Oper, ja, wie ein steigender, durchdringender Trommelwirbel wirkt. Die Höllenfahrt lässt uns in Spannung erahnen, dass etwas Besonderes und vor allem eine große Persönlichkeit auf uns zukommen wird. Aber über all dem liegt eine deutliche Ironie. Aber auch wenn sie darunter verborgen ist, präsentiert Mann uns hier viel philosophischen Weitblick.
Und schon hier, in der Darstellung rund um den Urvater Abraham, zeigen sich die immer wieder auftauchenden, ewigen Aktualitäten dieses Buchs. So warnt uns Mann davor, dass man mit Vorsicht den Überlieferungen gegenüberstehen sollte. Zu oft haben Menschen sie geändert, um ihre Macht zu rechtfertigen. „Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu festigen.“ Solche Fingerzeige, bezogen auf uns Menschen und Religionen, die wir in tragischer Weise bis heute erleben, machen dieses Werk so besonders und zeitlos.
Jesus und der Heilige Gral | Tobias Daniel Wabbel
Die Szene der Fans der Artussaga, der Ritter der Tafelrunde und des heiligen Grals ist riesig und die Literatur über Thesen und neuaufgewärmte Thesen reißt nicht ab. Und wahrscheinlich ist es doch unser aller Suche, die wir im Leben nach unserem heiligen Gral machen, die uns diese Geschichte so verständlich macht. Tobias Daniel Wabbel hat diese Suche jetzt mit seinem lesenswerten Werk „Jesus und der Heilige Gral“ ergänzt. Wieso der Verlag das Buch für 9,90 Euro fast verramscht, ist mir absolut nicht klar. Denn ich habe sehr viele Bücher über diesen Themenkomplex gelesen und dies ist eindeutig eines der informativsten. Darüber hinaus ist es sehr gut recherchiert. Ein Buch, dem ich wirklich mehr Leser wünsche – ein Buch, das sowohl für Szenenkenner als auch Neueinsteiger in diesem Themengebiet eine gute Ausgangslage bietet.
Organisch | Giulia Enders
Zwei Dinge vorab: Ich habe nicht das äußerst erfolgreiche Buch „Darm mit Charme“ von Giulia Enders gelesen UND ich muss zugeben, dass die Naturwissenschaften nicht meine Heimat sind. Ich fühle mich mehr in den Geisteswissenschaften zu Hause. Und genau aus diesem Anlass heraus brauche ich Naturwissenschaftler, die über den Tellerrand der eigenen Profession heraus ihre Phänomene erklären können. Verständlich, anschaulich und dem Laien zugewandt. Dann wird plötzlich alles spannend, interessant, ansprechend und nimmt mich mit. Und das möchte ich vorweg deutlich sagen: Die Ärztin Giulia Enders hat eine Sprache, die auch dem Laien die Chance gibt, die oft komplexen Zusammenhände der Biochemie unseres Körpers verständlich zu machen. Darüber hinaus verdeutlicht sie mit ihrem Werk, dass Medizin nicht ein Wissen ausschließlich für „Halbgötter in Weiß“ sein muss.
Asa | Zoran Drvenkar
So oft wird behauptet, dass ein Autor einen absolut individuellen Stil hätte. Zu oft! Aber bei Zoran Drvenkar ist es absolut so. Wer dies noch nicht erlebt hat, sollte es dringend nachholen. Seine Sprache (oder sollte man sagen Ansprache) macht ihn unverwechselbar, aber für einige vielleicht auch schwer zu lesen. Lange ist es her, dass ich seine fabelhaften Romane „Sorry“ und „Du“ gelesen habe, aber schnell ist man wieder in dieser besonderen Atmosphäre eines Drvenkar-Romans/Thrillers. Und er ist in diesem Stil weitergegangen. Umfassender, konkreter, filigraner, kunstvoller wirken nun seine Beschreibungen und Darstellungen. Und wir? Wir dürfen die Hauptperson sein, denn er sagt uns in diesem für ihn typischen Stil, „du“ fühlst dies oder „du“ machst jenes. Das Erleben in seinem Roman „Asa“ ist nicht Asas Geschichte. Nein, ihre Geschichte wird zu unserer Geschichte. Allein schon in dieser Ansprache, können wir dem Erlebnis nicht entgehen. Ein immer wieder geschickter Schachzug Drvenkars. All das ist hohe Erzählkunst.