Welch ein eigenständiges und eigenwilliges Werk hat uns Adam Thirwell durch diesen Roman geschenkt! Kraftvoll, dynamisch, wortstark, in einer zeitlosen und zeitweise skurril verknüpften Umgebung. Wir sind in Frankreich der Vorrevolution und Revolution und werden auch ins revolutionäre Amerika geführt, aber gleichzeitig sind wir auch in unserer „Jetzt-Zeit“. Ein revolutionärer Erzählansatz über eine Geschichte aus einer stürmischen Revolution, über den gelebten (vor allem hier feministisch gelebten) Willen, frei von gesellschaftlichen Konventionen zu leben. Und dies fordert vollkommen überraschende Reaktionen. Es liegt Veränderung, der Wille nach mehr als dem bisherigen Leben, in der Luft. Daher sind die Personen direkt und alles hinterfragend. Thirlwells Schreibstil ist stark, wie seine Hauptperson Celine. Er inszeniert sie durchweg in den extremen Emotionen der Jugend, auch wenn sie älter wird. Diese sind voller Leidenschaft, Gedanken an Sex, Wut und Rache. Celines Auflehnen findet intensive Frauensolidarität in ihrem Kampf gegen ein Patriachat, das als natürlich gegeben um die Ecke kommt und das man nicht unterschätzen sollte.
Apollo 11 | James Donovan
Es gibt Eckpunkte der Weltgeschichte, die wir alle zu kennen glauben, die uns so klar sind. Jedoch sind sie in unserem Geschichtsverständnis extrem herunterreduziert auf wenige Fakten. So ergeht es wohl vielen auch beim ersten Flug eines (oder eigentlich zweier oder eigentlich dreier) Menschen zum Mond. Auch wenn sie von Verschwörungstheoretikern immer wieder in Zweifel gezogen wird, die Geschichte, die dahintersteckt, ist viel, viel größer als oft erzählt. James Donovan erzählt sie uns mit viel Herzblut für das Ziel und für die dahinterstehenden menschlichen Geschichten. Aber es geht nicht „nur“ um diese Reise, nein, es geht auch um Amerika, um das Gefühl des Aufbruchs der 50er und 60er Jahre.
Donovan erzählt mit viel Begeisterung für die Sache und die engagierten Personen eine Geschichte moderner Heroen. Diese Helden sind zwar im Wettkampf mit der Sowjetunion, aber es sind friedliche Helden. Es geht um Kreativität, Engagement, Ehrgeiz, um Wissen und Wissenschaft. Dies fasziniert merklich den Autor und diese Faszination „kommt rüber“.
Wir | Jevgenij Samjatin
Dystopien sind in! Auf dem Buchmarkt bis zu Streaming-Diensten wie Netflix. Sie treffen unseren scheinbar – negativen(?) – Zeitgeist, der in eine endzeitähnliche Zukunft schaut. Mir sind allein in den letzten zwei Jahren über zehn neue, auf aktuell getrimmte Versionen von Orwells „1984“ bekannt. Und nach Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ als Serie (mit zu vielen Staffeln), wurde auch eine Neuversion von Huxleys „Schöne neue Welt“ und anderen, ähnlichen Stoffen, hinterher geschossen. Und wir glauben, die ganzen historischen Vorbilder zu kennen. Aber wer kennt Jevgenij Samjatins „Wir“? Die erste Dystopie aus dem Jahre 1920, die einen loyalen Anhänger eines totalitären Zukunftsstaates darstellt, der aber scheinbar Zweifel bemerkt. Man hat das Gefühl, dass Samjatin einen Blick in die Zukunft der damals noch jungen Sowjetunion werfen konnte (was ihm zum Verhängnis dort werden sollte). So präzise sind zeitweise seine Darstellungen der Strukturen des kommenden Stalinismus. Das Verbot dieses Buches ließ nicht lange auf sich warten. Aber der dunkle Schatten dieser bedrückenden Zukunftsversionen eines Überwachungsstaates und der dort dargestellten Gesellschaft, reicht auch bis in unsere Zeit!
Orwell kannte das Buch!
The Marriage Act – bis der Tod euch scheidet | John Marrs
In seinem neusten genialen Werk hat John Marrs die dystopische „schöne neue Welt“, die uns durch die Digitalisierung und die Gefahren versagender Demokratien blühen kann, erneut fabelhaft auf den Punkt gebracht. Und ganz oft überkommt uns während des Lesens das Gefühl, dass wir sehr, sehr knapp vor dieser Welt stehen und wir schon in wenigen Monaten und Jahren in dieser Welt leben könnten. Das ist nicht das zeitliche Science-Fiktion-Katapult in eine ferne Zukunft in 200 oder 300 Jahren. Nein, das ist die mögliche, erdrückende Lebensrealität vielleicht im Jahr 2024 oder 2025. Und all dies hinterfragt unser Jetzt! Unsere naive Technikgläubigkeit, unseren eingepaukten Positivismus, in dem wir glauben, dass am Ende immer alles gut wird. Wird es aber nicht!
Nazi-Führer schauen dich an – 33 Biographien aus dem Dritten Reich
Wenn wir historische Quellen lesen, sind wir immer besonders gefordert! Es gilt in die Zeit einzutauchen!
1933 erschien das schreckliche antisemitische Werk „Juden sehen dich an” von Johann von Leers. Fern ab, im Pariser Exil, wollte 1934 ein mutiger Mann diesem Buch voller Hass, Lüge und Intoleranz etwas entgegensetzen. Walter Mehring war Jude und – neben Kurt Tucholsky- einer der bekanntesten Schriftsteller, Lyriker und Satiriker der Weimarer Republik. Mit spitzer, ironischer Zunge und entlarvend schrieb er. Und uns wird bei jeder Zeile heute noch klar, wie tief den Nazigrößen seine verbalen Pfeile der Satire geschmerzt haben müssen. Dieses Werk ist eine eindrucksvolle, besondere Quelle, da es so deutlich zeigt, dass viele, viele dunkle Seiten der Nazi-Größen 1934 bekannt waren und somit ihre tief psychopathischen Züge und Verlogenheiten offensichtlich waren. Dies alles ist „verpackt“ in einer unterhaltsamen Ironie eines Sprachkünstlers.
Die jetzige erneute Veröffentlichung des historischen Textes, richtet sich an den geschichtskundigen Leser, der direkt in die Zeit des NS-Staats einfahren möchte. Ein wunderbares Buch für Menschen, die glauben schon alles – oder zumindest viel – über die NS-Diktatur gelesen zu haben!
Mächte und Throne | Dan Jones
Dan Jones hat sich in den letzten Jahren seinen festen Platz in der aktuellen europäischen Geschichtsschreibung gesichert. Und ich gebe zu, dass ich seit dem sensationellen Werk „Kampf der Könige“, rund um das Haus Plantagenet, auf sein nächstes Werk hin geschmachtet habe. BBC-Journalist, Historiker, bekannt aus TV-Dokus (z.B. über den Brand Londons 1666) repräsentiert er die typische moderne, mitreißende, faktensichere Geschichtsschreibung im anglo-amerikanischen Raum. Diese Art des Schreibens fasziniert sowohl Fachleute wie auch Newcomer im Bereich Geschichte. Somit ist auch sein neuestes Werk ein Buch für die, die sich schon ganz lange für Geschichte begeistern und auch die Leser, die noch den nötigen Überblick suchen.
Der Papst, der schweigt – die Geschichte von Pius XII, Mussolini und Hitler | David I. Kertzer
Es herrschen die grausamsten Diktatoren, die die Welt sich vorstellen kann. Sie morden, quälen millionenfach – entfachen den größten Krieg der Menschheit. Und was macht der erste Vertreter des christlichen Glaubens? Des Glaubens, der angeblich für Menschlichkeit, Nächstenliebe, Fürsorge steht? Der angebliche Stellvertreter Gottes und Christi auf Erden? Ein Mann, der sich als Nachfolger eines Märtyrers sieht, der für seine Überzeugung gestorben ist? Welche Reaktion kommt aus seinem Palast? Was sagt Pius XII zu Hitler und Mussolini? Er schweigt oder hält tief exegetische Predigten, die sehr viel Spiel lassen, wie man sie verstehen kann. Nichts Konkretes, keine Hilfe, kein Wort für die Millionen unschuldigen Opfer! Das Schweigen Pius XII ist in diesem fabelhaften, großen Werk von Pulitzer-Preisträger David I. Kerzer fast nicht auszuhalten! Ein wichtiges Werk, ein – nach wie vor – brisantes Thema! Denn es macht klar: Pius XII ging es darum seine Institution zu retten – vielleicht sich zu retten, aber nicht um die wehrlosen Opfer der Faschisten und der Nationalsozialisten.
Angst | Ivar Leon Menger
Es ist wohl das “Must-have” im Thrillerbereich des deutschen Buchmarktes in diesem Sommer 2023. Nach seinem sensationellen Erstlingswerk „Als das Böse kam“, präsentiert sich Ivar Leon Menger als besonders schnell und produktiv in seiner Kreativität und veröffentlicht nun – schon ein Jahr später – sein so dringend erwartetes Zweitwerk. Und es präsentiert sich mutig anders! Schon in den ersten Zeilen wird klar: Hier reproduziert niemand ein mögliches aufgewärmtes Erfolgsrezept. Nein, hier geht ein Autor weiter, zeigt sich wandelbar und auf geniale Art unberechenbar. Und? Ist es nicht genau das, was wir bei einem Thriller haben wollen? Die Unberechenbarkeit!
Schnell sind wir im und beim Thema: Stalking. Stalking ist unfair, unvorhersehbar, ist Psychoterror! Und…wir sind in Berlin! Und wir erfahren: „Berlin ist voller Irrer”!
Surrender – 40 Songs, eine Geschichte | Bono
Ja, ich muss hier direkt zugeben, dass ich absolut nicht neutral an dieses Buch herangehen konnte. Ich bin seit meiner Jugend der totale Fan der irischen Band U2 und vor allem ihres charismatischen Sängers Bono (zuerst noch Bon Vox, gebürtig aber eigentlich Paul David Hewson), der die literarisch oft tiefgreifenden Texte dieser Band (und manche Texte sind ein Mysterium für den Zuhörer) verfasst. U2 ist nicht irgendeine Band – U2 hat all die Menschen, die ihre Jugend in den 80er/90er ansiedeln geprägt.
Somit möchte ich gar nicht versuchen meine Rezension als „neutral“ darzustellen. Das kann sie nicht sein – dass vermögen meine Gedanken nicht. Um meiner Herangehensweise zumindest etwas den Versuch einer kritischen Distanz zu geben, kann ich höchstens die Fragestellung an mich selbst stellen: Wurden deine sehr hohen Erwartungen an dieses Buch ansatzweise erfüllt? Und hier muss ich ehrlich und unmissverständlich sagen: Ja!
Und genau das möchte ich hier erklären
Cancel Culture – Ende der Aufklärung? | Julian Nida-Rümelin
Unsere Gesellschaft steigert und spaltet sich immer extremer im Streit. Es erscheint, dass die verschiedenen Pole sich immer unversöhnlicher gegenüberstehen! Ein Stein z.B. des Anstoßes: Political Correctness der Sprache! Aber geht es hier überhaupt um Sprache? Geht es nicht darum bestimmtes Denken, bestimmte Meinungen zu verbieten? Geht es um die Sprachpolizei oder gar um orwelsches Neusprech? Woke-Sprache oder Intoleranz? „Cancel Culture“ ist das Reizwort! Und Julian Nida-Rümelin nähert sich diesem Thema philosophisch gekonnt und souverän. Mutig ist ein solches Buch zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft, denn es gleicht emotional bei vielen Gruppierungen in unsrer Zeit einem Minenfeld. Dazu geht Nida-Rümelin geschickt in die Geschichte der Philosophie. Die Beispiele wirken oft wie Analogien. Deutlich wird, dass es den Versuch, unliebsame Meinungen moralisch zu unterbinden – ja, eventuell sie ganz auszulöschen, immer schon gab. Nida-Rümelin hilft mit seinem Weg dem Thema etwas die vorgefertigte emotional verkrustete Meinung zu nehmen. Es wird wieder sachlicher! Wir beginnen uns kritisch mit der Methode auseinanderzusetzen und sind weniger in z.B. Geschlechts- und/oder Gesellschaftsdebatten.