Erschienen im C.H.Beck-Verlag (Rezensionsexemplar, also Werbung) Highlight 2025 Es ist schon seltsam, wenn man im…
Kategorie: Roman
Daisy Miller | Henry James
Daisy Miller ist jung, nicht an Konventionen interessiert und macht das, was sie für richtig hält. Sie fragt nicht danach, was andere – was die „gute Gesellschaft“ – für richtig hält. All dies würde in unserer Zeit schon viel Mut bedeuten und zu Ausgrenzung bis zur Verachtung führen – aber im 19. Jahrhundert? Daisy Miller ist dort unzeitgemäß – ihrer Zeit voraus, denn sie sucht ihre Unabhängigkeit! Und dazu hat sie Charme und sie merkt, dass dieser Charme etwas bei Männern auslöst. In verspielter, vielleicht auch naiver Art liebt sie damit zu spielen. Sie kommt aus der „neuen Welt“ und ist fürs „alte Europa“ wie eine Zumutung und Herausforderung. Dort urteilt man über sie als unmoralisch und dabei ist sie in ihrer Umgebung doch bei weitem die authentischste Person. Sie sucht nach ihrem Glück – das Glück einer jungen Frau.
Jamaika Inn | Daphne du Maurier
Du kennst Daphne du Maurier nicht? Doch! Aber sicher – du kennst sie! Ich sage nur: „Die Vögel“, „Rebecca“ oder „Wenn Gondeln Trauer tragen“ und schon wird klar: Du kennst Daphne Du Maurier. Und daher könntest du auch schon – unbewusst –ihr Werk „Jamaica Inn“ kennen. Entweder als Filmfan, denn auch dieses Buch wurde von genialen Alfred Hitchcock unter dem Namen „Riffpiraten“ verfilmt (wir sehen: Hitchcock war einen Riesenfan von ihr). Oder du konntest, so wie ich im letzten Jahr, in diesem großen Gasthaus und Pub mitten im herrlich mysteriösen Bodmin-Moore in Cornwall etwas Zeit verbringen. Beides bringt uns Mauriers Werk näher. Aber so wie sie erzählt, ist die Atmosphäre und die Geschichte einzigartig. Große Weltliteratur mit atmosphärischem Tiefgang und einer sehr tiefgründigen Menschenkenntnis.
Herz der Finsternis | Joseph Conrad
„Ich kenne den Teufel der Gewalt, den Teufel der Gier und den Teufel glühenden Verlangens… Als ich jedoch an diesem Berghang stand, ahnte ich, daß ich im blendenden Sonnenschein dieses Landes einen schlaffen, heuchelnden, schwachsichtigen Teufel kennenlernen würde, von räuberischer, unbarmherziger Torheit.“
Kein Klassiker bringt uns den Ursprung des heutigen Elends, Leids, ja den Ursprung der Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent wohl so nahe, wie Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Wieso? Ich denke, weil Joseph Conrad, der eigentlich Jozef Konrad Korzeniowski hieß, das, was er erzählte, wirklich erlebt hat. Zumindest sind Teile seines grandiosen und auch inhaltlich fürchterlichen Buches biographisch. Conrad ist in vieler Hinsicht ein Phänomen, erlernte er doch die englische Sprache erst mit Anfang zwanzig und verfasst dann in dieser Sprache dieses Werk – und auch andere – die Literaturgeschichte im anglo-amerikanischen Raum schreiben sollten. „Herz der Finsternis“ erzeugte über Jahrzehnte hinweg Kontroversen und wer es liest, wird dies bis heute verstehen. Nicht still wurden die Diskussionen um Auslegung, Wertung und/oder Verständnis. Es geht um Rassismus, chauvinistisches Sendungsbewusstsein und das Verschwinden von Menschlichkeit an diesem Ort. Dies alles gibt es natürlich nicht nur in Afrika (so konnte Francis Ford Coppola die Handlung in „Apocalypse Now“ nach Vietnam verlegen). Aber dort in Afrika hat diese Vergangenheit bis heute ihre Auswirkungen. Eine scheinbar immer wieder stattfindende Wiederauferstehung der brutalsten Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun.
Orlando | Virginia Woolf
Als ich diesen Blog einmal gestartet habe, war ganz klar ein Ziel – neben vielen nie bewusst gewählten Zielen -, dass ich besondere Bücher vorstellen wollte. Heute habe ich mir für die Jubiläumszahl 250 sehr bewusst Virginia Woolfs großes, Werk „Orlando“ ausgesucht. Eigentlich sollte man überhaupt nicht versuchen, die literarische Kunst einer Virginia Woolf vorzustellen, sondern einfach das Werk empfehlen und es vollkommen für sich selbst sprechen lassen. Aber das schaffe ich dann doch nicht. Man möge mir verzeihen!
Virginia Woolfs „Orlando“ ist in seiner Sprache, seinen Beschreibungen, Vergleichen und Wortwitz, ein literarisches Kunst- und Meisterwerk. Aber vor allem das Thema der Geschlechtlichkeit katapultiert das Buch quasi in unserer Zeit! Macht es modern und gleichzeitig so wunderbar zeitlos! Orlando, der einst ein Mann war, verändert sich im Laufe des Buches zur Frau. Die Gründe nennt die vermeintliche Biografie nicht, aber diese sind auch nicht wichtig. Woolf schockiert damit 1928, heute zeigt sich ihre Vordenkerrolle. Das Relativieren des Geschlechts ändert alles literarische Denken rund um die Statik von Protagonisten.
Ein sanfter Mann | Uwe Appelbe
Schicksalsschläge fragen nicht, ob sie in unser Leben kommen dürfen – sie kommen unerwartet, ungefragt und so unverständlich für die, die sie treffen. So ergeht es René Sander. Ein junger Mann, dessen Frau plötzlich – ohne vorherige Symptome, ohne Vorwarnung – am Sekundentod stirbt.
René sucht nach dem Grund, warum jemand stirbt. Er sucht die Antwort dieser tiefst philosophischen, existenziellen Frage, um zu verstehen, um akzeptieren zu können.
Da treten die junge, mysteriöse Gertrud und ihre kleine Schwester Katharina in sein Leben. Sie ziehen in die freien Räume in sein Haus, die er untervermietet. Er hat schnell das Gefühl Gertrud verfallen zu sein. Sein Blick ist nach wie vor zurück auf seine Frau Ruth gerichtet, aber die junge Frau und das Kind wecken irgendwie seine Lebensgeister. Der sanfte, trauernde René zahlt Gertrud dafür, dass sie des Abends die Kleider seiner verstorbenen Frau Ruth trägt. Es gibt ihm das Gefühl, dass Ruth wirklich existiert hat.
Uwe Appelbe erzählt eine eigenwillige und bei weitem nicht vorauszuschauende Geschichte. Er lässt sie wie in einem Prozess laufen – das macht sie und ihre Personen ein wenig wie unberechenbar.
Im Takt des Lebens | Isabella Völkl
Isabella Völkl hat das Beste getan, wie man mit den Krisen des Lebens umgeht. Sie hat daraus ein Buch gemacht. Somit hat sie uns ein kurzes, besonderes Werk geschenkt, in dem sie ihre Gedanken und dramatische Geschichte mit Sprachkunst erzählt – uns näherbringt und uns näherkommen lässt. Die großen Wendungen und Krisen können uns weiser machen, wenn wir sie als symptomatisch für das Leben begreifen. Dies ist Isabella Völkl in ihren düsteren Stunden gelungen.
Der Auftakt ihres Buches klingt wie eine düstere Prophezeiung, obwohl sie selbst betont, dass das Buch positiv wirken soll. Es soll positiv zum Leben stehen. Ein Leben, das inmitten der Vielzahl von Leben hier bei uns existiert.
Der Fänger im Roggen | J.D Salinger
Viel ist geschrieben worden über den Fänger im Roggen und wer ist eigentlich dieser Holden Caulfield. Dieser Ich-Erzähler, Teenager, der uns ganz unverblümt sagt, dass er nun mal immer lügt. Und dies zieht er in einer großmäuligen Art durch den gesamten Roman. Und dazu passiert auch nicht viel und es vergeht nicht viel Zeit – nur ein Wochenende. Aber dieser verlogene, großmäulige Teenager hat seinen eigenwilligen (oft arroganten) Blick, entwickelt seine Ansicht, wird unterschätz, schlägt quer und äußert dann plötzlich eine zutiefst dunkle Philosophie. J.D. Salingers Werk ist eine große Fundgrube – auch nach über 70 Jahren. Und dies nicht nur für die Menschen, die sich als gebildet und intellektuell ansehen und somit Klassiker lesen. Nein, auch nach wie vor für junge Menschen, die am Start des Lebens sind. Ein dynamischer Klassiker, der das Kontroverse nicht verloren hat. Auch, wenn die Zeit fern ist – seine Haltung ist generationsübergreifen und wahrscheinlich auch für GenZ eine Fundgrube: „Manchmal benehme ich mich um einiges älter, als ich bin – wirklich -, aber das merkt dann bloß keiner. Die Leute merken nie was.“ Holden ist halt zeitlos als junger Mensch sehr klar und unterhaltsam: „Aber man weiß nie – bei der Mutter von jemand, meine ich. Mütter sind alle leicht gestört.“
Wie ich unsterblich wurde | Nero Campanella
Wer will es nicht sein? Unsterblich! Unsterblich für die Menschheit! Das besondere Werk geschaffen, das vielleicht Jahrhunderte in die Menschheitsgeschichte nachhallte.
Nero Campanella kreiert Decker, der eigentlich ein Dilettant ist, aber Großes in sich spürt. Er erklärt uns, wie er unsterblich wurde.
Das Buch spielt während der Coronazeit und der Autor überfällt uns etwas damit, dass er die Hauptperson Decker vorstellt, indem er diesen sich erst einmal übergeben lässt. Decker ist ein etwas runtergerockter Typ. Aber auch ein etwas sensibler Mensch, dem bei heftigen Nachrichten direkt der Magen versagt. Nun ist er, Hegelianer und Schriftsteller, auf dem Weg ins tiefste Brandenburg – etwas fern ab. Eingeladen vom saarländischen Kultusministerium soll er ein Buch schreiben. In einer Villa mit einigen anderen Gästen, Pseudokünstlern, Pseudo Intellektuellen, haust er einige Wochen mit großem, kreativem Ziel. Decker hat sich nichts anderes vorgenommen als die Deutsche Gegenwartsliteratur in die Luft zu sprengen.
Ich, Sperling | James Hynes
Bildung, Wissen, Ästhetik – dafür steht die Antike. Wir befinden uns in diesem Roman kurz vor dem Untergang diese Zeit, im 4. Jahrhundert nach Christ Geburt, im Süden des heutigen Spaniens – in Hispania. Wir befinden uns also kurz vor dem langen Schlaf der Kultur und des Wissens im kommenden Mittelalter. Auch Jakob, die Hauptperson, geht nicht mehr davon aus, dass seine Geschichte zukünftig von jemandem gelesen wird. Es erscheint, dass alles in Vergessenheit geraten wird.
„Ich, Sperling“ ist ein eindrucksvoller, besonderer Roman in einer historischen Umgebung. Geprägt ist das Erzählen des Autors James Hynes durch eine fabelhaft lyrische, bunte, vielfältige und sehr ausgefeilte Sprache, voller intensiven Darstellungen, die sich in Momenten der Gewalt und des Sex plötzlich brachial und derb präsentierten kann. Das alles ist ausdrucksstark und verfehlt beim Leser nicht seine Wirkung.