(Rezensionsexemplar)
Erschienen im wbgTheiss-Verlag
Die Welt im Wahnsinn
Es herrschen die grausamsten Diktatoren, die die Welt sich vorstellen kann. Sie morden, quälen millionenfach – entfachen den größten Krieg der Menschheit. Und was macht der erste Vertreter des christlichen Glaubens? Des Glaubens, der angeblich für Menschlichkeit, Nächstenliebe, Fürsorge steht? Der angebliche Stellvertreter Gottes und Christi auf Erden? Ein Mann, der sich als Nachfolger eines Märtyrers sieht, der für seine Überzeugung gestorben ist? Welche Reaktion kommt aus seinem Palast? Was sagt Pius XII zu Hitler und Mussolini? Er schweigt oder hält tief exegetische Predigten, die sehr viel Spiel lassen, wie man sie verstehen kann. Nichts Konkretes, keine Hilfe, kein Wort für die Millionen unschuldigen Opfer! Das Schweigen Pius XII ist in diesem fabelhaften, großen Werk von Pulitzer-Preisträger David I. Kerzer fast nicht auszuhalten! Ein wichtiges Werk, ein – nach wie vor – brisantes Thema! Denn es macht klar: Pius XII ging es darum seine Institution zu retten – vielleicht sich zu retten, aber nicht um die wehrlosen Opfer der Faschisten und der Nationalsozialisten.
Neue Einblicke über ein historisches Drama
All das liest sich wie eine Skizze eines Theaterdramas und somit beginnt Kertzer sein Werk auch damit, dem Leser erst einmal einen Überblick über die handelnden Charaktere dieses Schauspiels zu geben. Ein guter Schachzug, denn es hilft uns sehr gut, die Verknüpfungen, Netzwerke, den Sumpf zwischen Faschisten und Amtskirche zu verstehen. Man kennt sich, man mag sich, man tut sich nichts.
2020 gab der heutige Papst Franziskus die Teile des vatikanischen Archivs frei, die all die Dokumente rund um Pius XII beinhalteten. David I. Kertzer nutzte tausende dieser nun zugängigen Dokumente und stellt uns, in einem faszinierenden Werk, vielschichtig das Drama vor. Durch diese Funde ergeben sich absolut neue Aspekte der Geheimdiplomatie zwischen dem Vatikan und Nazi-Deutschland. Der Autor macht aber auch quellenkritisch klar, dass die dort gewonnenen Einsichten nur eine Seite erläutern. Viele Quellen anderer Archive, durchleuchten das Handeln des damaligen Papstes kritischer. All dies ist eine eindrucksvolle Darstellung einer der umstrittensten Geschichten, einer der umstrittensten Personen während des Faschismus und des 2. Weltkriegs. Ein mitreißendes Buch für alle Geschichtsfans und -freaks. Einmal angefangen, liest man im Marathonstil!
Von Gegenwind zu Rückenwind aus dem Vatikan
War sein Vorgänger Pius der XI noch sehr energisch in seiner Art, klagte auch Missstände während des Aufstiegs der Nazis immer mehr an (so wie in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“), so präsentierte sich der neue Papst Pius XII, der den Aufstieg der Nazis noch vor der „Machtergreifung“ als Nuntius vor Ort in Deutschland erlebt hatte, total zurückhaltend. Ihm war es viel wichtiger, das „gute Verhältnis“ zu Deutschland nicht zu trüben, um eventuell ein zweites Reichskonkordat mit Hitler abschließen zu können.
Kardinal Pacelli zeigt sich auch schon vor seiner Wahl im Konklave zu Papst Pius XII, als ein hervorragender Kandidat für NS-Deutschland und dem faschistischen Italien, in dem er dafür sorgte, dass die letzte gedruckte Predigt des vorherigen Papstes, die sich kritisch über die Diktatoren zeigte, noch in der Druckerei des Vatikans vernichtet wurde. Das war sein Kurs! Dazu war er mehr farbloser Technokrat als Idealist oder Visionär.
Der Papst schweigt zum millionenfachen Mord
Geblendet von dem Glauben, mit Hitlers-Deutschland absprachen treffen zu können, ignorierte er das Leiden der Menschen in Polen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, England, Slowenien, etc.. Den Staaten, die Deutschland überfiel.
Vor allem sein kommentarloses Verhalten in den Bezug auf die Judenverfolge, den Holocaust – mit Ausnahme eines schwachen Einsatzes für konvertierte Juden zum katholischen Glauben – lassen den Leser oft nur kopfschüttelnd zurück. Wie sehr hätte hier seine moralische Autorität – vor allem in Italien – den jüdischen Mitbewohnern helfen können.
Ein umfassendes Bild dieses Papstes entsteht vor unserem geistigen Auge. Vor allem durch die vielen Darstellungen der verschiedenen Botschafter im Vatikan, die ja schließlich oft aus verschiedenen politischen Systemen und Wertesystemen kamen. Es zeigt sich jedoch über diese Grenzen hinaus das Bild einen zaghaften, schüchternen, ängstlichen, vielleicht etwas naiven Mannes, mit dem Charakter eines staatlich-bürokratischen Verwalters.
Kertzer ist historischer Genuss!
Kertzers Erzählstil ist faktenreich und so vielschichtig, schnell und oft konkret, dass man manchmal glaubt, mitten in einem historischen Spionageroman oder Politthriller zu sein. All dies tut dem wissenschaftlichen Anspruch des Buches mit seinen umfassenden bibliographischen Quellenangaben, keinen Abbruch. Es zeigt einfach die hohe Kunst des Erzählens dieses Autors. In schnellen, kurzen Szenen – Spielfilm gleich – stellt er z.B. viele Versuche vieler diplomatischer Akteure rund um den Ausbruch des 2. WK dar. Wir fiebern mit, wer wann versuchte die Entwicklung zu stoppen – Hitler zu stoppen! Im Spiegel unseres Wissens, dass der Lauf der Welt seinerzeit auf den Abgrund zulief, wächst somit der Eindruck, ein verheerendes Drama zu lesen. Tragische Hauptperson ist der weltentrückte Papst.
Daumen hoch für diese umfassende und fesselnde Erzählung. Ein Topniveau der modernen Geschichtsschreibung.