Ich muss zugeben, dass ich als Musiker – im Positiven – immer schon mehr als voreingenommen gegenüber „Doktor Faustus“ war. So sehr geht das Werk in die Tiefe der Harmonielehre, dass vielleicht dies für manche Leser der besondere Zugang, für andere vielleicht aber auch die Schwere des Werks ausmacht. Aber alle Auseinandersetzung lohnt sich! Musik ist die schwarze Kunst. Musik ist Alchemie, Musik ist die Verführung des Teufels. Ein seltsamer Blick? Vielleicht, aber es geht Thomas Mann wieder einmal um den Künstler, den Verführer, der zeitlebens auch verführt wird, der Verführung unterliegt. Magier einer Kunst. Doktor Faustus ist komplex und nimmt uns mit in ein Leben, nimmt uns mit auf eine Reise. Dabei hat das Werk viele Ebenen, Dimensionen.
Kategorie: Roman

Das Leben fing im Sommer an | Christoph Kramer
Ein Fußballer schreibt einen Roman? Ja, und er scheint auch viel gelesen zu haben. Ein Buch, eine Zeitreise ins – für die Deutschen – denkwürdige Jahr 2006. Und es geht bei weitem nicht primär um Fußball. 2006 – wer da in der Jugend war, ist ein Millennial (zwischen 1980 bis 1995 geboren). Und dieses Lebensgefühl bringt Christoph Kramer in seinem Roman, gespickt mit vielen autobiographischen Zügen, herrlich auf den Punkt: Mit ForYou-Tasche, Tattooketten an den Hälsen der Mädchen, SchülerVZ, Sony Erikson Handys, ICQ. Darüber hinaus haben viele Kids eine kleine Karriere im Pokémon oder Yu-Gi-Ho-Karten sammeln hinter sich. Alle guten Dinge, die geschehen, sind entweder krass oder stabil. Zur Kommunikation schreibt man noch SMS. Und die Musik? Tja, die kann z.B. von Timberland oder Natascha Bedingtfield sein. Eine wunderbare Zeitreise in die Jugend der Millennials. Überhaupt viele, viele Bilder für alle, die damals schon lebten; die in der Zeit des Sommermärchens dabei waren.
Aber auch für junge Leser und Leserinnen, die das Gefühl jugendlicher Liebe verstehen, erleben und ergründen wollen. Wie schon das Cover andeutet, ist eine ganze Portion New Romance im Buch und Kramers Welt ist sehr cozy. Er wächst in einer Umgebung auf, die harmonisch, alterstypisch, etwas dörflich ist (obwohl es sich mit Solingen schon um eine „richtige“ Stadt handelt) und auch den Hauch von der nostalgischen „guten, alten Zeit“ hat. Obwohl alles gerade einmal 20 Jahre her ist.

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull | Thomas Mann
Die Felix Krulls sind in der Welt nicht weniger geworden- es werden zurzeit scheinbar immer mehr. Und schon immer hat uns dieser Menschentypus mit dem ausgeprägten Münchhausensyndrom – obwohl rücksichtslos und Schaden bringend – fasziniert. Sie sind verrucht, schamlos – aber sie haben scheinbar vor allem eines, was uns fasziniert: Eine riesige couragierte Freiheit (solange der lange Arm des Gesetzes sie nicht erreicht hat). Die direkten Nachfahren Krulls haben – wie er – auch das Potential zu Medienstars. Wie eine Hommage an ihre Lebenswerke erhielten Frank Abagnale, in Form eines Blockbusters („Catch me if you can“ mit Leonardo DiCaprio) oder aktuell Anna Delvey und Belle Gibson ihre eigenen Netflix-Serien.
Felix Krull ist charmant, besitzt Charisma. Lernt man ihn kennen, muss man ihn mögen. Sein ganzes Tun und Handeln kann er – bei aller Lüge, bei allem Betrug oder bei Diebstahl – auf fast altruistische Art und Weise rechtfertigen.

Der Gott des Waldes | Liz Moore
Erschienen im C.H.Beck-Verlag (Rezensionsexemplar, also Werbung) Highlight 2025 Es ist schon seltsam, wenn man im…

Daisy Miller | Henry James
Daisy Miller ist jung, nicht an Konventionen interessiert und macht das, was sie für richtig hält. Sie fragt nicht danach, was andere – was die „gute Gesellschaft“ – für richtig hält. All dies würde in unserer Zeit schon viel Mut bedeuten und zu Ausgrenzung bis zur Verachtung führen – aber im 19. Jahrhundert? Daisy Miller ist dort unzeitgemäß – ihrer Zeit voraus, denn sie sucht ihre Unabhängigkeit! Und dazu hat sie Charme und sie merkt, dass dieser Charme etwas bei Männern auslöst. In verspielter, vielleicht auch naiver Art liebt sie damit zu spielen. Sie kommt aus der „neuen Welt“ und ist fürs „alte Europa“ wie eine Zumutung und Herausforderung. Dort urteilt man über sie als unmoralisch und dabei ist sie in ihrer Umgebung doch bei weitem die authentischste Person. Sie sucht nach ihrem Glück – das Glück einer jungen Frau.

Jamaika Inn | Daphne du Maurier
Du kennst Daphne du Maurier nicht? Doch! Aber sicher – du kennst sie! Ich sage nur: „Die Vögel“, „Rebecca“ oder „Wenn Gondeln Trauer tragen“ und schon wird klar: Du kennst Daphne Du Maurier. Und daher könntest du auch schon – unbewusst –ihr Werk „Jamaica Inn“ kennen. Entweder als Filmfan, denn auch dieses Buch wurde von genialen Alfred Hitchcock unter dem Namen „Riffpiraten“ verfilmt (wir sehen: Hitchcock war einen Riesenfan von ihr). Oder du konntest, so wie ich im letzten Jahr, in diesem großen Gasthaus und Pub mitten im herrlich mysteriösen Bodmin-Moore in Cornwall etwas Zeit verbringen. Beides bringt uns Mauriers Werk näher. Aber so wie sie erzählt, ist die Atmosphäre und die Geschichte einzigartig. Große Weltliteratur mit atmosphärischem Tiefgang und einer sehr tiefgründigen Menschenkenntnis.

Herz der Finsternis | Joseph Conrad
„Ich kenne den Teufel der Gewalt, den Teufel der Gier und den Teufel glühenden Verlangens… Als ich jedoch an diesem Berghang stand, ahnte ich, daß ich im blendenden Sonnenschein dieses Landes einen schlaffen, heuchelnden, schwachsichtigen Teufel kennenlernen würde, von räuberischer, unbarmherziger Torheit.“
Kein Klassiker bringt uns den Ursprung des heutigen Elends, Leids, ja den Ursprung der Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent wohl so nahe, wie Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Wieso? Ich denke, weil Joseph Conrad, der eigentlich Jozef Konrad Korzeniowski hieß, das, was er erzählte, wirklich erlebt hat. Zumindest sind Teile seines grandiosen und auch inhaltlich fürchterlichen Buches biographisch. Conrad ist in vieler Hinsicht ein Phänomen, erlernte er doch die englische Sprache erst mit Anfang zwanzig und verfasst dann in dieser Sprache dieses Werk – und auch andere – die Literaturgeschichte im anglo-amerikanischen Raum schreiben sollten. „Herz der Finsternis“ erzeugte über Jahrzehnte hinweg Kontroversen und wer es liest, wird dies bis heute verstehen. Nicht still wurden die Diskussionen um Auslegung, Wertung und/oder Verständnis. Es geht um Rassismus, chauvinistisches Sendungsbewusstsein und das Verschwinden von Menschlichkeit an diesem Ort. Dies alles gibt es natürlich nicht nur in Afrika (so konnte Francis Ford Coppola die Handlung in „Apocalypse Now“ nach Vietnam verlegen). Aber dort in Afrika hat diese Vergangenheit bis heute ihre Auswirkungen. Eine scheinbar immer wieder stattfindende Wiederauferstehung der brutalsten Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun.

Orlando | Virginia Woolf
Als ich diesen Blog einmal gestartet habe, war ganz klar ein Ziel – neben vielen nie bewusst gewählten Zielen -, dass ich besondere Bücher vorstellen wollte. Heute habe ich mir für die Jubiläumszahl 250 sehr bewusst Virginia Woolfs großes, Werk „Orlando“ ausgesucht. Eigentlich sollte man überhaupt nicht versuchen, die literarische Kunst einer Virginia Woolf vorzustellen, sondern einfach das Werk empfehlen und es vollkommen für sich selbst sprechen lassen. Aber das schaffe ich dann doch nicht. Man möge mir verzeihen!
Virginia Woolfs „Orlando“ ist in seiner Sprache, seinen Beschreibungen, Vergleichen und Wortwitz, ein literarisches Kunst- und Meisterwerk. Aber vor allem das Thema der Geschlechtlichkeit katapultiert das Buch quasi in unserer Zeit! Macht es modern und gleichzeitig so wunderbar zeitlos! Orlando, der einst ein Mann war, verändert sich im Laufe des Buches zur Frau. Die Gründe nennt die vermeintliche Biografie nicht, aber diese sind auch nicht wichtig. Woolf schockiert damit 1928, heute zeigt sich ihre Vordenkerrolle. Das Relativieren des Geschlechts ändert alles literarische Denken rund um die Statik von Protagonisten.

Ein sanfter Mann | Uwe Appelbe
Schicksalsschläge fragen nicht, ob sie in unser Leben kommen dürfen – sie kommen unerwartet, ungefragt und so unverständlich für die, die sie treffen. So ergeht es René Sander. Ein junger Mann, dessen Frau plötzlich – ohne vorherige Symptome, ohne Vorwarnung – am Sekundentod stirbt.
René sucht nach dem Grund, warum jemand stirbt. Er sucht die Antwort dieser tiefst philosophischen, existenziellen Frage, um zu verstehen, um akzeptieren zu können.
Da treten die junge, mysteriöse Gertrud und ihre kleine Schwester Katharina in sein Leben. Sie ziehen in die freien Räume in sein Haus, die er untervermietet. Er hat schnell das Gefühl Gertrud verfallen zu sein. Sein Blick ist nach wie vor zurück auf seine Frau Ruth gerichtet, aber die junge Frau und das Kind wecken irgendwie seine Lebensgeister. Der sanfte, trauernde René zahlt Gertrud dafür, dass sie des Abends die Kleider seiner verstorbenen Frau Ruth trägt. Es gibt ihm das Gefühl, dass Ruth wirklich existiert hat.
Uwe Appelbe erzählt eine eigenwillige und bei weitem nicht vorauszuschauende Geschichte. Er lässt sie wie in einem Prozess laufen – das macht sie und ihre Personen ein wenig wie unberechenbar.

Im Takt des Lebens | Isabella Völkl
Isabella Völkl hat das Beste getan, wie man mit den Krisen des Lebens umgeht. Sie hat daraus ein Buch gemacht. Somit hat sie uns ein kurzes, besonderes Werk geschenkt, in dem sie ihre Gedanken und dramatische Geschichte mit Sprachkunst erzählt – uns näherbringt und uns näherkommen lässt. Die großen Wendungen und Krisen können uns weiser machen, wenn wir sie als symptomatisch für das Leben begreifen. Dies ist Isabella Völkl in ihren düsteren Stunden gelungen.
Der Auftakt ihres Buches klingt wie eine düstere Prophezeiung, obwohl sie selbst betont, dass das Buch positiv wirken soll. Es soll positiv zum Leben stehen. Ein Leben, das inmitten der Vielzahl von Leben hier bei uns existiert.