Adieu, Osteuropa – Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt | Jacob Mikanowski Textopfer, Mai 16, 2023Mai 16, 2023 Erschienen bei Rowohlt [Rezensionsexemplar] Eine Geschichte eines Landes, was nie existierte “Das kaleidoskopartige Muster aus Sprachen, Berufen und Gesellschaftsklassen, das das Leben in Osteuropa strukturierte, wirkte auf Außenstehende oft rätselhaft, aber auch für Einheimische konnte es eine Herausforderung darstellen.” Und so wirkt es bis heute auf uns! Jacob Mikanowski erzählt hier liebevoll und emphatisch diese Geschichte, in der Form einer Kulturgeschichte! Es gibt kein Land, das Osteuropa heißt oder Menschen, die sich als Osteuropäer sehen. Daher hat dieses Buch einen wunderbaren, bezaubernden Ansatz dieser Geschichte Osteuropas, es sieht das historisch Verbindende in vielen Teilen gelebter Kultur. Dort spricht wohl kaum jemand von einer Geschichte, sondern von lettischer oder ukrainischer, etc. Geschichte. Es ist also in diesem Buch erst einmal der Blick von außen auf einen gemeinsamen Kulturraum – von sich gegenseitig prägenden Ländern. Ein Blick auf viele Länder, die während der Sowjetzeiten oft so grau wirkten und die in ihren Nationalitäten, Religionen, Geschichten so vielfältig und bunt sind. Religiöse Vielfalt Ein Blick zurück zeigt: Die Geschichte liegt hier lange im Dunklen und wird erst mit dem aufkommenden Christum – mit der Schrift, die es mit sich bringt – deutlich für uns. Das Christentum, das aber vor allem – wie so oft in der Geschichte- mit Gewalt kommt. Es zerstört die vorherige Religion und große Teile der damaligen Kultur, die sich jedoch noch zeitweise erahnen lassen. Die Ausrichtung des Christentums ist jedoch nicht einheitlich. Die Spaltung in katholische und orthodoxe Christen entwickelt sich mitten durch die Völker Osteuropas. Die neuen Glauben können jedoch nicht – wie oben angedeutet – alle Vorstellungen der Volksglauben vertreiben. Aberglauben leben fort! Vor allem Vorstellungen von Werwölfen und Vampiren bleiben lange, zeitweise bis in die Gegenwart, erhalten.Besonders ist aber auch die Geschichte der Juden in Osteuropa, die sich zu einer besonderen jüdischen Kultur entwickelt. So lebt zu Beginn des 20. Jahrhunderts z.B. die größte jüdische Gemeinde mit über 5 Millionen Juden dort. Sprechen wir über Religionen, darf der Islam als prägend für den Balkan und natürlich die Türkei (vormals das Osmanische Reich) nicht fehlen. So ist Osteuropa ein Schnittpunkt der Religionen! Manchmal ein gefährliches Pulverfass und manchmal ein Beispiel für friedliche Koexistenz. Auf jeden Fall voller Dynamik! Die Menschen Im Dunkeln liegt auch, wo die Slawen, die den größten Teil der osteuropäischen Vorfahren wohl präsentieren, herkommen. Je nach Standpunkt des Betrachters, ob in Russland, Polen oder anderen Ländern, beansprucht man dies für sich, um sich selbst zur Keimzelle dieser Länder zu erklären. Vieles spricht aber heute für Rumänien, in dem selbst keine slawische Sprache mehr gesprochen wird. Oft hatten die Osteuropäer das Gefühl aus der Ferne – aus z.B. Wien, Istanbul, Petersburg/Moskau – regiert zu werden, was die Mentalität stärkte, dass die fernen “Großen” sich wenig um das Leid vor Ort kümmerten. Im 20. Jahrhundert hatte dies wohl seinen Höhepunkt im menschenverachtenden Stalinismus. Eine herrliche Sicht Jacob Mikanowski schreibt nicht nur nüchtern Fakten auf, sondern schreibt auch eine sehr persönliche Geschichte, mit Bezügen zu seinen Vorfahren, zu seiner Familie. Es wird deutlich, dass die Geschichte der hier lebenden Familien durch das multikulturelle Miteinander oft auch multikulturelle Familien ergab, die sowohl z.B. ungarisch wie polnische oder Familienmitglieder anderer Nationen haben konnten. Er macht damit deutlich, dass die Nationen, die sich oft deutlich voneinander trennen möchten, doch viel näher sind, als sie selbst glauben – als sie sich eingestehen.Es macht Spaß dieses sehr umfangreiche und informative Buch zu lesen. Es vermittelt dem “Mitteleuropäer” wunderbar die Geschichte und vor allem das Entstehen der osteuropäischen Mentalität, der Verbindungen dieser Länder und hilft gleichzeitig zur besseren Differenzierung. Ich habe bezüglich der genannten Mentalität viele mir bekannte Menschen aus meinem Alltag, ihrer Art und Prägung dort “wiedergetroffen”. Ich glaube sie nun ein wenig besser zu verstehen. Geschichte Sachbuch KulturgeschichteOsteuropaRowohlt-Verlag