Noch wach? | Benjamin von Stuckrad-Barre Textopfer, Mai 1, 2023Mai 1, 2023 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (Rezensionsexemplar) Gefunden! Ja, ich habe nun ein Buch gefunden, das ich des Öfteren in diesem Jahr auch einigen Menschen, aus gegebenem Anlass, schenken werde. Denn ich kenne solche Typen! Männer, irgendwo zwischen Mitte 30 bis Mitte 60, die sich jenseits von Gesetzen, Regeln, Verpflichtungen (welche nach ihrer Meinung für andere, aber nicht für sie gelten) empfinden. Ständig unter Strom! In ihrem Umfeld mächtige Männer oder die, die immer mächtig wirken möchten. Für die Bildung, Wissen, Erfahrung nicht unbedingt viel zählen – die sich lächerlich darüber machen! Die in ihrem Allmächtigkeitsgefühl nerogleich nur noch ihre Wahrnehmung und Wahrheit ausleben, akzeptieren und Unterwerfung erwarten. Kritik wird sofort bekämpft – Kritik bedeutet Krieg! Ich schreibe dies – wie Benjamin von Stuckrad-Barre – selber als Mann, der ihr selbstbeweihräucherndes Gerede oft nur schwer ertragen kann! Pures Fremdschämen! Ihr propagiertes Mega-Machotum, indem sie wie ein egozentriertes Kind sehr laut in der Menge, der von ihnen abhängigen, ihnen unterstellten Menschen, ihre immerwährende Dominanz beweisen müssen. Sie stellen sich in ihrer Welt durch ständige Übergriffe in ihrer Sprache, ihrem absoluten Machtanspruch und permanent (auf allen Ebenen) erwarteten Verfügbarkeit ihrer Angestellten, Untergebenen. („Noch wach?“) unübersehbar dar. Wir sind hier nicht in einem fiktiven Roman – das merken wir schnell! Wir sind in der Realität, deren Eisbergspitzen wir in den letzten Jahren in Machtmenschen wie Filmproduzenten Harvey Weinstein oder dem Chef des Brülljournalismus Julian Reichelt begegnet sind. Alphamännchen, die in jeder Situation ihre hierarchische vorgesetzte Situation den anderen gegenüber ausspielen müssen, die vor allem Machtmissbrauch jeglicher Art als „zum Spiel“ dazugehörig empfinden. Wortgewaltig Wortgewaltig spricht mit von Stuckrad-Barre hier ein Insider der Medienbranche. Aber der genannte Typus ist bei weitem nicht nur dort zu finden! Nur: Hier kann er sich offensiver ausleben, da viele für ihren Traum der Berühmtheit, des Erfolgs bereit sind (fast) alles zu tun und oft über sich ergehen lassen. Benjamin von Stuckrad-Barre liefert einen sehr individuellen Schreibstil, der bestimmt unser Erzählen und Schreiben zukünftig prägen wird. Das gesamte Buch präsentiert sich wie ein riesiger, immer dynamischer Beitrag eines Poetry-Slamers. Von Stuckrad ist ein genauer Beobachter, der durch seine oft assoziative Art Verhalten und gelebte „Normalitäten“ unserer Gesellschaft entlarvt. Bei dieser dynamischen, schnellen Folge der vollen Sätze ist der Leser gefordert. Man muss am Ball bleiben – dabei bleiben. Das ist fortwährendes Gedankenjogging! Zeitweise werden uns 1:1 ungefiltert die Abläufe mitgeteilt. Das ist schnell, bleibt schnell und ist nichts fürs “Nebenher-Lesen”. Es ist aber vor allem faszinierend, mit welcher Sprachkunst der Autor uns hier fortwährend informiert, und auf vielen Ebenen unterhält. Hier wird mit Sprache jongliert! Wer Spaß an Sprache hat, wird so manchen Satz, manche Begrifflichkeit, aufsaugen und mit sich tragen. Durch die eigenwillige Großschreibung von Schlagwörtern, als ob der Autor uns schon vorwarnen will, schreien uns aus dem Text diese an. Sie wirken wie aufblinkende Warnzeichen! Lassen uns und die Hauptpersonen nicht zur Ruhe kommen und unterstützen somit die Atmosphäre der Umgebung. Wir sind in der immer wachen, speed- gestützten, und in einer Form von Kriegszustand lebenden, Medienbranche angekommen. „Lärm ist Quote!“ Das Buch ist eine Riesenklatsche an die hippe Menge der Boulevard-Presse, die im ständigen Modus sich selbst zu optimieren und zu übertreffen, scheinbar vollkommen den Boden unter Füßen verloren hat. Es geht um Presse – um Journalismus! Nein, kein Journalismus, der sagt, wie es ist, der neutral berichten, erklären und aufklären will! Oder der ethische Normen und Werte hat! Nein, ein Journalismus, der gezielt destruktiv kommentiert und uns sagen will, wie es zukünftig sein muss! Hier soll Politik gemacht werden! Dazu wird täglich ein immerwährendes Szenario aufgebaut: “…stets aufgeregt, eigentlich permanent schreiend oder lachhaft hochnäsig ein vermeintliches WIR gegen DIE DA OBEN …” (Seite 55). Da werden notwendige Maßnahmen als Bedrohung der Wirtschaft und als naiv dargestellt. „Wissenschaftler werden als Alarmisten, Müsliprofessoren und Spaßverderber diskreditiert…” (Seite 75). Darüber hinaus findet ein dauerndes, übertrieben von Anglizismen dominiertes, Zukunftsgelalle statt, in der die Feelgoodmanagerin quasi das bessere und ewige Leben kennt! Ein Leben ohne Limit, stets im Wachstum, stete Game Changer/ Erweckungsmomente, etc. Man glaubt seinen eigenen positivistischen Zukunftsvisionen. Da wird Zeitung zur Ersatzreligion – da wird im heiligen Auftrag und Zorn vernichtet, wer die Welt nicht so sieht. Postmoderner Cäsarenwahn! Und daher nimmt man im Namen der Quote Kollateralschäden in Kauf. Ja, der medial-selbsterzeugte Suizid, wird dann noch heuchlerisch bedauert!Von Stuckrad-Barre bringt es auf den Punkt! Und das ist seine besondere Kunst! Das Buch hat das Zeug, eines der wichtigsten Bücher für die bundesdeutsche Gesellschaft in diesem Jahr zu werden! Roman BRDKiepenheuer & Witsch