Manche Jahrestage kommen wie geplant um die Ecke, dabei sind sie doch nur ein zufälliges Spiel der Zahlen. Aber es ist schon bemerkenswert, dass wir in diesem Jahr den 150. Geburtstag des literarischen Jahrhunderttalents Thomas Mann feiern und gleichzeitig den 80. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs begehen werden. Wenn wir dann noch sehen, dass wir kurz vor einer Bundestagswahl stehen, bei der wir in einer – in der Bundesrepublik zuvor – noch nie gekannten Deutlichkeit als Demokraten Rechtsextremen gegenübertreten müssen, so zeigt dies im Besonderen: Thomas Mann ist aktuell! Es ist ein Glückgriff, dass der S. Fischer Verlag Manns mahnende Redensammlung „Deutsche Hörer!“ genau jetzt neu aufgelegt hat. Thomas Mann ist in seinen Reden aus den USA – in die der Literaturnobelpreisträger ungewollt ins Exil gegangen war, in dem er ein Flüchtling war – nicht müde geworden, wie ein Mahner in der Wüste, wie ein Sisyphos, der immer wieder neue Wege in die Köpfe der Deutschen suchte, dem eigenen Volk den kommenden Niedergang zu prophezeien, sollten sie nicht den Nazis den Gehorsam verweigern. Thomas Manns Worte sind nicht nur historisch. Sie lassen sich – erschreckenderweise – an vielen Stellen in unserer Zeit auf uns bekannte Populisten und vom Verfassungsgericht als gesichert rechtsextreme Parteien anwenden!

Daisy Miller | Henry James
Daisy Miller ist jung, nicht an Konventionen interessiert und macht das, was sie für richtig hält. Sie fragt nicht danach, was andere – was die „gute Gesellschaft“ – für richtig hält. All dies würde in unserer Zeit schon viel Mut bedeuten und zu Ausgrenzung bis zur Verachtung führen – aber im 19. Jahrhundert? Daisy Miller ist dort unzeitgemäß – ihrer Zeit voraus, denn sie sucht ihre Unabhängigkeit! Und dazu hat sie Charme und sie merkt, dass dieser Charme etwas bei Männern auslöst. In verspielter, vielleicht auch naiver Art liebt sie damit zu spielen. Sie kommt aus der „neuen Welt“ und ist fürs „alte Europa“ wie eine Zumutung und Herausforderung. Dort urteilt man über sie als unmoralisch und dabei ist sie in ihrer Umgebung doch bei weitem die authentischste Person. Sie sucht nach ihrem Glück – das Glück einer jungen Frau.

Steling – Wolfsgeheul | Ute Mainz
Er ist das Thema, mit dem man in Sekundenschnelle in den ländlichen Gebieten unseres Landes ganze Gesellschaften sprengen, entzweien und auf Konfrontation bringen kann: Der Wolf! Schaden und Feind oder schützenswert und wichtig? Kommissar Steffens gerät in seinem Einsatz genau in die Konfliktzone der gegnerischen Parteien, welche ständig im Kampf um die Argumentationshoheit sind. Und hier wird nicht nur mit Worten gefochten. In der Nordeifel, dem Dreiländereck zu Aachen oder am Steling (der höchsten Erhebung dieser Gegend), stehen sich die Menschen mit ihrer Position scheinbar unversöhnlich gegenüber. Es erscheint, dass jeder hier eine Meinung dazu hat. Eine aufgeheizte Atmosphäre, in der nicht viel fehlt, bis es eskalieren kann. Und dazwischen der sehr eigene, kernige Kommissar Steffens. Auch im vierten Teil der Steling-Serie erfahren wir wieder sehr authentisches über die Menschen und die Landschaft rund um Monschau und Mützenich.

Der Premierminister | Craig Oliver
Es ist immer besonders faszinierend, wenn ein Autor uns ein Werk präsentiert, das seine Welt und seine Kreativität miteinander verbinden. Craig Oliver weiß, wovon er uns in seinem Thriller „Der Premierminister“ berichtet, denn er war von 2011 bis 2016 Kommunikationsdirektor des Premierministers Cameron in der Downing Street No. 10. Seine Schilderungen rund um das Leben, um den Ort der Handlung und das Miteinander dort dürfte intensiv von seinen Erfahrungen und von den gedachten Szenarien geprägt sein. All das macht das Buch zu etwas Besonderem in der großen, großen Schar der Konkurrierenden Neuerscheinungen auf dem Markt der Thriller und Krimis. Ein Blick des Kenners, des Eingeweihten. Und noch etwas ist ganz anders. Kennen wir als Hauptperson in vielen Thrillern (auch in Filmen, wie z.B. „Airforce One“) das Staatsoberhaupt oder den Ministerpräsidenten als Verteidiger der Freiheit, ist sein Premier das totale Gegenteil: Kein Idealist! Ein egozentrischer Karriererist. Ein charakterlicher Schwachmat, dem man schon nach kurzer Zeit wünscht, dass ihn möglichst schnell der (literarische) Tod ereilt. Ein Seitenhieb Olivers auf seinen ehemaligen Chef?

American Mother | Colum McCann und Diane Foley
Was kann ein Mensch ertragen? Wieviel Leid kann er aushalten?
Und wieviel davon kann er später verzeihen, wenn er/sie den Menschen kennenlernt, der es zu verantworten hat? Diane Foley saß über lange Zeit und über viele Gespräche hinweg dem Mörder ihres Sohnes gegenüber, der diesen gefoltert und auf bestialische Art getötet hatte. Und dies nicht in Notwehr, sondern bewusst, weil dieser war, was er war – ein amerikanischer Journalist. James Foley wollte über Menschen in einem Kriegsgebiet berichten – über ihr schweres Leben, über ihre Leiden.
Colum McCann hat nun zusammen mit der bewunderungswürdigen Diane Foley dieses besondere Buch, diesen besonderen Bericht verfasst. Einen Bericht, der für den möglichen Leser nicht immer einfach zu lesen ist. Zu schrecklich die Vorstellung, dass dies alles auf Realität beruht. Und trotz allem ist es ein sehr eindrucksvolles, mitnehmendes und wichtiges Werk. Es geht nicht vornehmlich um die Schrecklichkeit und uns schockierende Brutalität. Es ist zutiefst wichtig, dass diese Geschichte erzählt und von vielen gehört wird. Die Geschichte, die in das Leben der Familie Foley einschlug, Leben auf unvorstellbare Art änderte. Es geht darum, wie Hass und Vergebung uns leiten können. Sei es in die Irre, in den Wahnsinn oder in ein Leben nach dem Unvorstellbaren.

Die Geschichte von Adam und Eva
Wir alle haben unsere kulturellen Prägungen, die zumeist (fast) nicht wegzudenken sind. Adam und Eva gehören dazu. Jahrhunderte lang rechtfertigten sie menschliches Leben, gesellschaftliches Leben und das Verständnis, wo wir denn eigentlich herkommen. Sei es als große Parabel oder (wie noch heute in fundamentalistischen Kreisen) wörtlich, als eine Darstellung von Realität. Stephen Greenblatt, Professor für englische und amerikanische Literatur und Sprache ist in seinem Buch der Geschichte und der Sicht unserer Vorfahren auf sie, nachgegangen. So entstand ein Buch über die Lebensgeschichte einer der außergewöhnlichen Erzählungen, eines großen Mythos. Und so taten sich für unsere Vorfahren und auch für viele Menschen ganze reale Fragenkataloge auf: Welche Sprache sprachen wohl Adam und Eva? Welche Beziehung hatten Tier und Mensch im Paradies? Wie war wohl die vegetarische Kost im Paradies – im Gedachten Naturzustand? Darüber hinaus wurden sie von vielen Seiten über Jahrhunderte gesehen, interpretiert und versucht zu durchleuchten. So entstand viel Kontroverse mit zeitweisen provokanten Sichtweisen für die Christenheit, so z.B., dass die Schlange – als positive Figur – den Menschen schließlich ihr Wissen gebracht hätte und ein eifersüchtiger Gott ihnen dies nicht geben wollte.
Ein spannender Blick auf die Vielseitigkeit eines großen Mythos.

Jamaika Inn | Daphne du Maurier
Du kennst Daphne du Maurier nicht? Doch! Aber sicher – du kennst sie! Ich sage nur: „Die Vögel“, „Rebecca“ oder „Wenn Gondeln Trauer tragen“ und schon wird klar: Du kennst Daphne Du Maurier. Und daher könntest du auch schon – unbewusst –ihr Werk „Jamaica Inn“ kennen. Entweder als Filmfan, denn auch dieses Buch wurde von genialen Alfred Hitchcock unter dem Namen „Riffpiraten“ verfilmt (wir sehen: Hitchcock war einen Riesenfan von ihr). Oder du konntest, so wie ich im letzten Jahr, in diesem großen Gasthaus und Pub mitten im herrlich mysteriösen Bodmin-Moore in Cornwall etwas Zeit verbringen. Beides bringt uns Mauriers Werk näher. Aber so wie sie erzählt, ist die Atmosphäre und die Geschichte einzigartig. Große Weltliteratur mit atmosphärischem Tiefgang und einer sehr tiefgründigen Menschenkenntnis.

Der hundertjährige Krieg um Palästina | Rashid Khalidi
Wir hören viel vom Krieg im Nahen Osten. Wir glauben viel zu wissen vom Krieg im Nahen Osten. Aber alleine schon die Nennung des Konflikts zwischen der arabischen Bevölkerung und jüdischen Bevölkerung in dem Land, das offiziell Israel heißt und von vielen Palästina genannt wird, heißt im Konflikt zu sein – eine wertneutrale Sicht, der über 100 jährigen Auseinandersetzung scheint nicht möglich. Große Gefühle von Hass, Wut, Rache – sensible und sentimentale Gefühle von Religion und des Unverständnisses geben wenig Chancen für eine wirkliche Geschichtsschreibung. Und doch tun wir jedes Mal so, als ob die kriegerischen Auseinandersetzungen im heutigen Israel etwas vollkommen Neues wären und als ob die Lage so klar wäre. Je nach Sicht ist die eine oder die andere Seite Haupttäter eines sich ständig neu erfindenden Krieges. Aber wer einen Augenblick länger hinschaut, wird verwirrt sein, wird die lange Kette des Krieges als einen großen – fast hundertjährigen Krieg – erkennen.
Rashid Khalidi ist amerikanischer Historiker mit palästinensischen Wurzeln. Seine Familie gehört schon lange zum Bildungsbürgertum und sein Großvater gründete die weltweit bekannte Khalidi-Bibliothek in Jerusalem – bekannt für ihre große Sammlung arabischer Manuskripte. Dort startete er auch sein umfangreiches Buchprojekt. Khalidi, macht seine deutlich palästinensisch geprägte Sicht dieses scheinbar nicht endenden Krieges deutlich, indem er von einer Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand spricht. Sein Fachwissen ist beeindruckend, seine Analysen trotzdem vielschichtig. Im März 2024 aktualisierte er sein Werk (in einem Nachwort) aufgrund des Angriffs der Hamas auf Israel und den massiven militärischen Reaktionen Israels.

Die Akte Madrid | Andreas Storm
Sehr zeitnah zum ersten Band von Andreas Storms „Lennard Lomberg Reihe“, habe ich nun also den zweiten Band mit großen Schritten durchgelesen, wohlwissend, dass das wohl für einen Autor nicht das Erstlingswerk das schwierigste Werk. Nein, es ist wohl das zweite Buch, in dem er beweisen muss, dass das fabelhafte erste Werk kein Zufallsprodukt war, sondern auf Können, Kreativität und Talent beruht. Und was soll ich lange drumherum reden? Andreas Storm hat diese hohe Prüfung eines Autors mit Bravour bestanden. Mit der Akte Madrid hat er fasst fließend an seinen ersten Kriminalroman „Das neunte Gemälde“ angeschlossen. Auch dieses Buch ist für Fans von guten, niveauvollen historischen Romanen ein durchweg mitreisendes Buch. Darüber hinaus tauchen wir wieder tief in die europäische Kunst- und Kulturszene ein, wenn sein Protagonist, der Kunstschätzer Lennard Lomberg, auf die Suche nach einem verschollenen oder gar entführten Meisterwerk ist. Beutekunst! Hauptambiente ist – neben einer Vielzahl europäischer Städte und Landschaften – Spanien. Überhaupt handelt es sich bei diesem Werk um einen europäischen Krimi und somit einen sehr modernen Krimi. Frei nach Suedes: „Europe is our playground“!

Hunsrücker Lebensbilder Band 1 | Leona Riemann
Schauen wir in die Geschichte, wird unser Blick doch schnell durch die großen Schlaglichter der Weltgeschichte geblendet, die das „normale Leben“ unserer Vorfahren zwar beeinflussten, aber bei weitem nichts über ihr alltägliches Leben, ihre Leiden, ihren Kummer, ihre Sorgen, aber auch ihre Freuden erzählen. Sozial- und Alltagsgeschichte, Regionalgeschichte, die Biografien der „normalen Menschen“ wie „Du und Ich“, geben uns doch zumeist weitaus mehr Einblick in das Leben unserer Vorfahren oder auch Vorstellungskraft, wie wohl unser Leben dort gewesen wäre. Aber diese Formen sind weitaus seltener, da die Quellenlage oft mäßig ist. Da ist es gut und wichtig, dass es Autoren gibt, die regional und lokal forschen. Autoren, die an ihren Orten Lebensgeschichten suchen und Formen überlegen, wie man – trotz der geringen Quellenlage – diese Geschichten vermitteln kann.
Leona Riemann erzählt uns solche Geschichten aus dem Hunsrück. Ihre „Hunsrücker Lebensbilder“ sind Lebensgeschichten und Geschichten aus dem Leben. Alltäglichkeiten und Ereignisse, die den Alltag und das Schicksal dieser Menschen plötzlich änderten. Ihre Erzählungen fußen auf historischen Geschehnissen, die sie in ihren emphatischen Erzählungen ausführt, wieder zum Leben erweckt. So begegnen wir einigen Einwohnern dieser Gegend wieder auf sehr lebendige Art und Weise.