Wir | Jevgenij Samjatin Textopfer, September 24, 2023September 24, 2023 Erschienen bei Ganymed Edition „Die Mutter der Dystopien“ Dystopien sind in! Auf dem Buchmarkt bis zu Streaming-Diensten wie Netflix. Sie treffen unseren scheinbar – negativen(?) – Zeitgeist, der in eine endzeitähnliche Zukunft schaut. Mir sind allein in den letzten zwei Jahren über zehn neue, auf aktuell getrimmte Versionen von Orwells „1984“ bekannt. Und nach Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ als Serie (mit zu vielen Staffeln), wurde auch eine Neuversion von Huxleys „Schöne neue Welt“ und anderen, ähnlichen Stoffen, hinterher geschossen. Und wir glauben, die ganzen historischen Vorbilder zu kennen. Aber wer kennt Jevgenij Samjatins „Wir“? Die erste Dystopie aus dem Jahre 1920, die einen loyalen Anhänger eines totalitären Zukunftsstaates darstellt, der aber scheinbar Zweifel bemerkt. Man hat das Gefühl, dass Samjatin einen Blick in die Zukunft der damals noch jungen Sowjetunion werfen konnte (was ihm zum Verhängnis dort werden sollte). So präzise sind zeitweise seine Darstellungen der Strukturen des kommenden Stalinismus. Das Verbot dieses Buches ließ nicht lange auf sich warten. Aber der dunkle Schatten dieser bedrückenden Zukunftsversionen eines Überwachungsstaates und der dort dargestellten Gesellschaft, reicht auch bis in unsere Zeit! Orwell kannte das Buch! Samjatins Welt Samjatins beschreibt einen totalitären Staat, der in purer Rationalität und Funktionalität, sämtliches menschliche Gefühlsleben organisiert oder besser gesagt, zerlegt hat. Nach dem 200jährigen Krieg haben nur 0,2 Prozent der Menschheit überlebt. Die Menschen leben in gläsernen Häusern, denn sie haben nichts voreinander zu verbergen. Hunger gibt es nicht, denn eine einheitliche Nahrung garantiert das Überleben der Bevölkerung. Liebe wurde ad acta gelegt und wird nun organisiert, mathematisch fundiert und gesetzlich in seiner Funktion festgelegt. Sämtliche Form der Individualität wurde bekämpft und getilgt.Hauptperson D503 ist Mathematiker, der totaler Rationalist und er liebt somit, was der „Wohltäter“ in angeblicher Logik dem Volk erklärt. Die Durchsetzung der klaren Regeln geschieht durch die immer wieder anwesenden „Beschützer“. Die Gesetzestafel preist er, wie ein religiöses Faktum. Diese legt den täglichen Zeittakt aller Bürger fest, minutengleich, sekundengleich – denn kein individuelles Handeln ist erwünscht. Das Lesen dieses historischen Werks Natürlich muss man etwas den Fahrstuhl durch die Zeit benutzen, wenn man sich einem solchen historischen Werk nähert. Aber wenn man sich darauf einlässt, erfährt man eine wunderbare experimentelle Geschichte mit sehr, sehr viel Weitblick. Samjatin hatte einen intelligenten Blick auf die Menschen und sah, neben den Bereichen wie Gruppendynamik und dem Hang Verantwortungen abzugeben, auch z.B. ihre Ignoranz oder ihre Eitelkeiten (So möchten sich viele in diesem neuen Staat die Nase ändern lassen. Sie wünschen sich eine feine schmale Nase, hassen ihrer „Knollennase“). Darüber hinaus zeigt er die große Technikgläubigkeit, die durch rhetorisches Blenden eine herrliche Zukunft voraussagt und damit die Anstrengungen des Jetzt rechtfertigt. Samjatins Werk macht auch literarisch deutlich, dass Orwells und Huxleys Werke nicht vom Himmel gefallen sind. Dies schmälert nicht ihre Leistung, sollte aber von jedem, der diese Bücher mag und schätzt, unbedingt gelesen werden! Dystopie DystopieGanymed Edition