Erschienen bei Kiepenheuer und Witsch
(Rezensionsexemplar, also Werbung)
Ein sehr weiblicher Blick auf die alte Bundesrepublik
Wir alle hatten wohl in den 60er und 70er Jahren (falls wir damals schon lebten) mindestens einen Willy in der Familie. Ja, und die Welt der Autos war männlich. Erst recht, wenn es um einen Mercedes ging! Mag der Name auch weiblich sein, der Fahrer war auf jeden Fall ein Mann. Alle Berufe rund ums Auto – der LKW-Fahrer, der Baggerfahrer, ja der Gabelstaplerfahrer (wie einer meiner Onkel) – ja, jeder, der hinter einem Steuer saß und etwas lenkte, die Richtung bestimmte, war „natürlich“ männlich. Und erst recht die Fahrer für andere: Busfahrer und natürlich Taxifahrer. Der Taxifahrer war eine Art Lonely Wolf der Großstadt, der jede Gasse kannte – der, wie autark, ganz allein in den großen Städten des Landes zurechtkam. Welch eine Revolution, wenn dann eine Frau als Taxisfahrerin in dieses Territorium eindrang. Wobei man trotz der Weiblichkeit, noch Taxifahrer gesagt hätte.
Katharina Zorn erzählt gemeinsam mit Filmemacherin Jasna Fritzi Bauer die Geschichte ihrer Oma Else, die diesen besonderen Weg ging. Eine Geschichte über eine sehr eigenewillige Frau, geschrieben aus einem zumeist sehr weiblichen Blick auf die damalige Gesellschaft der Bundesrepublik.
Eigenwillig
So eigenwillig der Weg von Else war, so eigenwillig ist der Weg der Autorinnen. „Else“ ist, trotz der Reise in die Gesellschaft der alten BRD, nicht eine Art historischer Roman – zumindest erscheint er nicht so. Denn die Personen wirken in ihrer Sprache nicht aus damaliger Zeit, sondern sehr mit uns verbunden. „Else“ ist auch nicht „nur“ Literatur. Nein, es verknüpft Videokunst mit Literatur und hat per QR-Codes etwas spielerisches-interaktives für und mit dem Leser. Vielleicht mehr ein Millennial/GenZ- Buch, das seinen ganzen Umfang, seine gewollte Atmosphäre erst in Kombination mit dem griffbereiten Handy oder einem iPad, sowie nötiger, dauerpräsenter Internetverbindung, präsentiert. Und so soll der Leser auf mehren Kanälen mitgenommen, angesprochen – in Elses Geschichte involviert werden. Das ist in kunstvollen Szenen dargestellt, aber auch riskant. Denn es ist nicht unbedingt das, was der klassische Buchleser erwartet oder auf das er sich einlassen möchte. Es ist mutig, wie Else mutig war, andere Wege zu gehen. Es ist künstlerisch-experimentell, wenn wir mit den Autorinnen neue, andere und ungewohnte Wege gehen. Es macht neugierig. Ist aber auch zwiespältig, zwischen Buch und Handy – zwischen unseren imaginären Vorstellungen über die Personen, Situationen und Atmosphären und den eher konkreten Bildern der Videos. Es mag Leserinnen und Leser geben, die so einen besonderen Zugang zur Geschichte finden.
Voller Mut
Die Geschichte beginnt 1968. Es gibt noch keine Sicherheitsgurte und Else lebt das Leben einer perfekten Familie im zunehmenden Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland: Ein Mann (natürlich Willi), zwei Mädchen, samstags Tennis und ein Mercedes. Nachdem Else deutlich die Härte des Patriarchats erfahren hat, entscheidet sie vollkommen allein und relativ spontan Taxifahrerin zu werden.
Auf den Weg der Autorinnen muss man sich einlassen können. Else und Elses Weg sind beeindruckend und bedenkt man die damaligen Umstände, voller Mut.