Erschienen bei C.H. Beck
(Rezensionsexemplar, also Werbung)
Der Zusammenbruch eines Imperiums
Es dauert lange, bis alte Systeme in sich zusammenbrechen oder revolutionär gestürzt werden. Eine Frage, die sich auch heute – aktuell – in einer Welt mit großen Umbrüchen immer wieder stellt. So ist der Blick nach Russland, zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ein Blick in die Geschichte, sondern ein Blick in die mögliche Systematik von Politologie und Soziologie. Es geht ums Verstehen, um Zeichen des Zerfalls zu erkennen. Und hier ist es nicht nur eine revolutionäre Kraft, die das Zarenreich im Februar 1917 wegfegte. Nein, man hat viel mehr das Gefühl, dass es den alten Kräften daran fehlte, sich noch einmal aufbäumen zu können oder zu wollen. Jörg Baberowski hat mit seinem Werk „Die letzte Fahrt des Zaren“ ein sehr eindrucksvolles und fleißiges Buch geschaffen, dass uns die Möglichkeit gibt – zeitweise wie minutiös – den Fall der alten Zeit wieder zu erleben. Dazu hat er es geschickt, durch den dauernden Wechseln von Ort und Personen, komponiert. Mit Fassungslosigkeit schauen wir auf die fehlende Tatkraft, ja, vielleicht auch die Arroganz der herrschenden Schicht, den Wechsel, der sich zeigt, zu erkennen. Was brachte, nach über 500 Jahren der Herrschaft, das Ende der Romanovs?
Untätigkeit, Zögern, Ignoranz
Man muss nicht alle handelnden Personen während der Abläufe in Russland 1917 mit ihrem Namen kennen. Dies wäre auch wirklich bei der Menge der Beteiligten, die rund um das Parlament, Militär, Adel, Revolutionäre oder am Hofe involviert sind, sehr viel verlangt. Autor Baberowski nennt uns jeweils geschickt kurz ihre Funktionen und wir können so gut nachvollziehen, wie Untätigkeit, Zögern, Ignoranz die Spirale der Revolution immer weiter ankurbeln. Im Mittelpunkt der Geschichte steht natürlich die entscheidungsschwache Person des Zaren Nikolaus II. Ein Herrscher, der mit der Situation vollkommen überfordert erscheint, der weder Weitblick noch Instinkt für politisches Handeln besitzt. Ein Herrscher, der – so erscheint es – sich fast weigert zu herrschen. Es erscheint, dass er die allgemeine Lage nicht verstehen will, sie wie ausschaltet und sich mehr in die Sorge um das Befinden seiner Familie flüchtet als in die Sorge, was mit dem gesamten Land geschieht. Für alle Beteiligten in den verschiedenen Machtpositionen ist es scheinbar undenkbar, dass es zum Ende der Romanovs kommt. Ja, das Ende der Aristokratie in Russland, die mit Gewalt und zeitweise brutalster Härte über die Jahrhunderte hinweg regiert hat. Und wie immer bei diesen Zusammenbrüchen, kommt das Ende dann sehr, sehr schnell.
Der Fall von Imperien
Jörg Baberowski hat ein spannendes Buch geschrieben, in dem er es schafft, die aufgeheizte Atmosphäre in Petersburg 1917 zu vermitteln. Oft sitzen wir – der wir das kommende Schicksal der Zarenfamilie und der Aristokratie kennen – kopfschüttelnd über der Lektüre. So viel Fehleinschätzung, ja Dummheit, ist oft schwer nachzuvollziehen. Aber genau diese Fehleinschätzungen sind das Ergebnis eines Systems, das sich selbst von Gott gegeben glaubt – das darüber hinaus marode ist und sich der neuen Zeit nicht offen gezeigt hat. Und so lernen wir nicht nur etwas über russische Geschichte, sondern über den Fall großer Imperien. Das alles hilft auch, in der Jetzt-Zeit genauer hinzusehen.