Man kann am Ergebnis der Zusammenarbeit von Autoren als Leser schwerlich feststellen, wer was im Buch geschrieben, erarbeitet oder konstruiert hat. Jedoch muss man schon zugeben, dass der neue Band über das Dezernat Q unverkennbar eine andere “Handschrift” trägt, als seine berühmten Vorgänger (was auch im Dankeswort deutlich wird). Dies soll bei weitem nicht negativ klingen, sondern es ist einfach eine faktische Feststellung. Die Fortführung des Sonderdezernats Q ist mehr wie ein Spin-Off der zehnteiligen Carl-Mørck-Serie anzusehen. Und in diesem Verhältnis zueinander funktioniert der Auftakt der neuen Bände, rund um Rose, Assad und der neu eingeführten französischen, mysteriösen Polizistin Helena Henry. Die Tradition ist klar gesetzt und man bleibt ihr hier treu. Aber – und das ist in Erzählweise und Konstruktion klar zu erkennen – ein neuer Geist ist eingekehrt. Es wird weiblicher, sei es in der Vorgehensweise bis hin zum Humor. Das alles, auch wenn die Geschichte sich rund um einige Männer und traumatische Kindheitserfahrungen im Internat eines Knabenchors drehen. Das Sonderdezernat Q für Cold-Cases schafft die Arbeit auch in (zu einem Drittel) neuer Besetzung, auf ihre uns bekannte eigene Weise.
Autor: Textopfer

Die dunkelste Stunde der Nacht | Ian Ranking
Es liegt nicht nur in meiner Affinität zu Schottland und im Besonderen zu Edinburgh. Nein, Ian Rankin schafft es nun seit 1987 (!) Detective John Rebus in Kriminalfälle, Lebenssituationen und -umstände zu verwickeln, die uns immer wieder aufs neue Mitnehmen. Rebus, seine Kollegin Siobhan Clarke und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen präsentiert Rankin als Charaktere mit Ecken und Kanten, ohne Stereotypen zu bedienen, aber auch sie (wie in manch anderem Thriller oder klassischen Krimi) als abgedrehte, unverstandene Einzelgänger mit überzogenem Profil und (fast) pathologischen Verhaltensweisen, darzustellen. John Rebus ist eignen, verliert sich und die Welt aber nicht durch oder in diesen Eigenheiten. Somit wird er für uns zu einem realistischen, ja liebenswerten Menschen, mit vielleicht mal dem einen oder anderen Spleen. Mehr auch nicht! Sein Verhalten ist nachvollziehbar. Er besitzt eine Zivilcourage, die klaren Normen und Werten folgt. Das macht ihn zeitlos, da dies wohl zu jederzeit „in“ ist. Auch in „Die dunkelste Stunde der Nacht“ wird es nicht langweilig oder eintönig – es bleibt spannend und wieder mal ganz anders als in den Bänden zuvor. Und das auch noch in Schottland – klasse!

Joseph und seine Brüder I | Thomas Mann
Von den Werken Thomas Manns, ist „Joseph und seine Brüder“ wohl eines der bedeutendsten, eindrucksvollsten und imposantesten. Auf jeden Fall ist es (mit seinen vier Romanen) das umfangreichste Werk. Im Mittelpunkt meiner Rezension steht der Auftakt, das heißt der erste Band mit den beiden Romanen „Die Geschichte Jaakobs“ und „Der junge Joseph“.
Manns erzählerische Kraft tritt uns schon zu Beginn, in der „Höllenfahrt“, entgegen. Ein Auftakt, der einer Ouvertüre einer großen Oper, ja, wie ein steigender, durchdringender Trommelwirbel wirkt. Die Höllenfahrt lässt uns in Spannung erahnen, dass etwas Besonderes und vor allem eine große Persönlichkeit auf uns zukommen wird. Aber über all dem liegt eine deutliche Ironie. Aber auch wenn sie darunter verborgen ist, präsentiert Mann uns hier viel philosophischen Weitblick.
Und schon hier, in der Darstellung rund um den Urvater Abraham, zeigen sich die immer wieder auftauchenden, ewigen Aktualitäten dieses Buchs. So warnt uns Mann davor, dass man mit Vorsicht den Überlieferungen gegenüberstehen sollte. Zu oft haben Menschen sie geändert, um ihre Macht zu rechtfertigen. „Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu festigen.“ Solche Fingerzeige, bezogen auf uns Menschen und Religionen, die wir in tragischer Weise bis heute erleben, machen dieses Werk so besonders und zeitlos.

Jesus und der Heilige Gral | Tobias Daniel Wabbel
Die Szene der Fans der Artussaga, der Ritter der Tafelrunde und des heiligen Grals ist riesig und die Literatur über Thesen und neuaufgewärmte Thesen reißt nicht ab. Und wahrscheinlich ist es doch unser aller Suche, die wir im Leben nach unserem heiligen Gral machen, die uns diese Geschichte so verständlich macht. Tobias Daniel Wabbel hat diese Suche jetzt mit seinem lesenswerten Werk „Jesus und der Heilige Gral“ ergänzt. Wieso der Verlag das Buch für 9,90 Euro fast verramscht, ist mir absolut nicht klar. Denn ich habe sehr viele Bücher über diesen Themenkomplex gelesen und dies ist eindeutig eines der informativsten. Darüber hinaus ist es sehr gut recherchiert. Ein Buch, dem ich wirklich mehr Leser wünsche – ein Buch, das sowohl für Szenenkenner als auch Neueinsteiger in diesem Themengebiet eine gute Ausgangslage bietet.

Organisch | Giulia Enders
Zwei Dinge vorab: Ich habe nicht das äußerst erfolgreiche Buch „Darm mit Charme“ von Giulia Enders gelesen UND ich muss zugeben, dass die Naturwissenschaften nicht meine Heimat sind. Ich fühle mich mehr in den Geisteswissenschaften zu Hause. Und genau aus diesem Anlass heraus brauche ich Naturwissenschaftler, die über den Tellerrand der eigenen Profession heraus ihre Phänomene erklären können. Verständlich, anschaulich und dem Laien zugewandt. Dann wird plötzlich alles spannend, interessant, ansprechend und nimmt mich mit. Und das möchte ich vorweg deutlich sagen: Die Ärztin Giulia Enders hat eine Sprache, die auch dem Laien die Chance gibt, die oft komplexen Zusammenhände der Biochemie unseres Körpers verständlich zu machen. Darüber hinaus verdeutlicht sie mit ihrem Werk, dass Medizin nicht ein Wissen ausschließlich für „Halbgötter in Weiß“ sein muss.

Asa | Zoran Drvenkar
So oft wird behauptet, dass ein Autor einen absolut individuellen Stil hätte. Zu oft! Aber bei Zoran Drvenkar ist es absolut so. Wer dies noch nicht erlebt hat, sollte es dringend nachholen. Seine Sprache (oder sollte man sagen Ansprache) macht ihn unverwechselbar, aber für einige vielleicht auch schwer zu lesen. Lange ist es her, dass ich seine fabelhaften Romane „Sorry“ und „Du“ gelesen habe, aber schnell ist man wieder in dieser besonderen Atmosphäre eines Drvenkar-Romans/Thrillers. Und er ist in diesem Stil weitergegangen. Umfassender, konkreter, filigraner, kunstvoller wirken nun seine Beschreibungen und Darstellungen. Und wir? Wir dürfen die Hauptperson sein, denn er sagt uns in diesem für ihn typischen Stil, „du“ fühlst dies oder „du“ machst jenes. Das Erleben in seinem Roman „Asa“ ist nicht Asas Geschichte. Nein, ihre Geschichte wird zu unserer Geschichte. Allein schon in dieser Ansprache, können wir dem Erlebnis nicht entgehen. Ein immer wieder geschickter Schachzug Drvenkars. All das ist hohe Erzählkunst.

Welten im Aufbruch – Eine Globalgeschichte der Antike | Raimund Schulz
Schon zu Beginn seines Werkes stellt Autor Raimund Schulz, selbst sehr ehrlich und überzeugend fest, dass ein Versuch, alle Ereignisse der Antike, die weltweit stattgefunden haben, in ihrer Fülle in einem Buch darzustellen, den Rahmen absolut sprengen würde. Und genau hier liegt die Kunst, mit der Schulz seine sich selbst gegebene Aufgabe fabelhaft erledigt. In geschickter Reduktion des Stoffes, ohne aber an Niveau und der Lösung seiner Aufgabe zu kratzen, legt er ein wunderbares Geschichtsbuch vor, dass in seiner Art wegweisend sein sollte. „Welten im Aufbruch“ ist der Blick über den Tellerrand hinaus. Weg vom zentralistischen europäischen Weltbild (als wäre sämtliche Kultur hier entstanden), biete er einen internationalen Blick. Genau so sollte der Blick auf Geschichte im Jahr 2025 sein. In einer Zeit, in der wir als Welt durch Kommunikation, das Internet, unsere Informationen und unser Wissen immer mehr zusammenleben, müssen wir weltweit Verständnis füreinander – für die Kultur, Mentalität und Geschichte – bilden. Genau dabei kann ein solches Werk helfen.

Kreuzfahrer | Dan Jones
Du findest Geschichte so ganz OK? Vielleicht auch etwas interessant? Dann wird Dan Jones dir zeigen, dass Geschichte fesselnd, aktuell, unterhaltsam, spannend, mitreißend und bildend sein kann. Während in vielen deutschen Buchläden die Geschichtsabteilungen schrumpfen, immer wiederkehrendem Kitsch und Gesellschaftsspielen weichen, wachsen diese in Großbritannien jährlich. Der Grund dafür sind Autoren wie Dan Jones, die den fabelhaften Spagat zwischen historischem Anspruch und Unterhaltung schaffen. Der Autor und BBC-Moderator, der vielleicht auch etwas ein Popstar unter den Produzenten moderner Dokumentationen in Europa ist, bringt Menschen zur Geschichte, die sich ansonsten dafür nicht interessieren würden. Das fehlt leider so in Deutschland und somit ist es fabelhaft, dass C.H.Beck seine Werke zu uns bringt.
Sein neuestes Werk „Kreuzfahrer“ ist erneut ein Beweis dafür, dass Jones es beherrscht, ein mittelalterliches Thema, das bei weitem nicht „hip“ wirkt, so zu erzählen, dass es einer Netflix-Serie als Buch gleicht. Und das alles auf einem anspruchsvollen Niveau. Das macht Spaß zu lesen – und geht (wie die Serie) viel zu schnell vorbei.

Erinnern heißt Handeln | Ruth Weiss
Die Autobiographie der eindrucksvollen Journalisten und Schriftstellerin Ruth Weiss, ist bei weitem nicht die „normale“ Lebensgeschichte, die viele in der Öffentlichkeit stehenden Personen zum Ende ihres Lebens schreiben. Ruth Weiss, jüdisches Kind, aufgewachsen im Nazi-Deutschland, Journalistin im apartheitsgeprägtem Südafrika und dann im vereinigten Deutschland, setz ihr Leben in ihrer Autobiographie – fast wie interdisziplinär – in Verbindung mit ihrer Herkunft, ihrer Prägung als deutsche Jüdin, ihrem Anspruch als engagierte Journalistin und vor allem als Demokratin, die sich für die Unterdrückten und Rechtlosen einsetzte. All das ist für uns als Leser eindrucksvoll. Eindrucksvoll, wie diese, über einhundertjährige Frau, klar Stellung – auch zu aktuellen Themen – nimmt und Haltung zeigt. Ihr Lebensmotto hat sie zu ihrem Titel gemacht: „Erinnern heißt Handeln“. Und nach dieser deutlichen Aufforderung, hat sie ihr eigenes Leben gestaltet.

Der Tower | Ivar Leon Menger
Stell dir vor, du bist ganz unten. Job weg, Freund weg, Wohnung weg. Das Leben hat eine Dynamik, die du so nicht wolltest. Doch dann bekommst du den Hauptgewinn. Da freuen sich alle mit. Endlich gewinnt mal jemand, der/die vom Leben so schlecht behandelt wurde. Ivar Leons Menger vierter Thriller ist absolut eine Geschichte in der Jetzt-Zeit. Allein schon sein Aufschlag ist top aktuell. Denn wir alle kennen – sei es aus eigener leidvoller Erfahrung und der unserer Freunde und Bekannten – den heiklen, harten Kampf um eine bezahlbare Wohnung und somit das Gefühl, bei den überfüllten Wohnungsbesichtigungen, der/die verlorene Bittsteller/in zu sein. Und genau, weil dieser Auftakt so unscheinbar, mitten aus dem Leben unserer Zeit kommt, lassen wir uns in die Geschichte hinziehen. Das Setting ist Berlin, in dem wir uns alle gut orientieren können. Die urbane Atmosphäre hat somit alles, was die Millionenstadt ausmacht: Vertrautes, aber auch die große Anonymität. Und vor allem Modernität. Wenn irgendwo in Deutschland die Zukunft des Wohnens einen Schritt weiter gemacht hat, dann doch bestimmt hier – in der größten Stadt des Landes. Und Menger stellt uns den Tower vor – vielleicht eine Zukunft des Wohnens. Aber will man wirklich so wohnen?