Erschienen im Suhrkamp-Verlag
(Rezensionsexemplar, also Werbung)
Endlich ein Blick auf die Zeit in der „Wolfsschanze“
Die Flut an populärwissenschaftlichen Sachbüchern zum Thema NS-Diktatur reißt nicht ab. Ärgerlich, dass man doch als interessierter Geschichtsleser oft immer wieder die gleichen Themen aufgewärmt präsentiert bekommt. Aber wie schön und wie besonders ist es dann ein Buch zu lesen, in dem ein wichtiger Abschnitt der Geschichte der Nazi-Zeit durchleuchtet wird, der im Allgemeinen von vielen Autoren nicht besonders bedacht oder so nicht in den Fokus gesetzt wird. Felix Bohrs neustes Werk „Vor dem Untergang“ über Hitlers Jahre in der – von ihm so benannten „Wolfsschanze“, ist solch ein besonderes Buch in unserem Lesejahr 2025. Ein Buch – einmal begonnen – das man nur schwerlich weglegen kann.
Eigentlich ist es schwer zu verstehen, dass es bisher viel Literatur zu den wenigen Monaten „des Untergangs“ im Führerbunker in Berlin oder Hitlers Leben mit seiner späteren Ehefrau Eva Braun auf dem Berghof gibt. Aber die lange Zeit in der Wolfsschanze, die eigentlich den langsamen psychischen und physischen Verfall des immer mehr medikamentenabhängigen Diktators und auch den Abschnitt des Abstiegs hin zur Niederlage des 2. Weltkriegs zeigt, wurde aktuell bisher so noch nicht dargestellt. Wieso lebte der Diktator während seines initiierten Weltkriegs mitten im Wald? Fern ab seines Volkes? Wie war die Atmosphäre dort? Wer durfte mit ihm wie sprechen? Viele spannende Aspekte tun sich hier auf!
Zwischen Propaganda und Trivialität
An keinem Ort verbrachte Adolf Hitler während des 2. Weltkriegs so viel Zeit, wie in der Wolfsschanze. Mit kurzen Unterbrechungen lebte er hier mit seinem Stab von 1941 bis 1944. Die Wolfsschanze, von der Wochenschau immer wieder als magischer Ort propagandistisch inszeniert, an dem Hitler seine angeblichen genialen Pläne als selbsternannter „größter Feldherr aller Zeiten“ ausfeilte, war während des Krieges für die deutsche Bevölkerung identitätsstiftend.
Felix Bohr startet seine Geschichte dieses besonderen Ortes mit seiner Reise ins heutige Polen und seinem Eindruck der Ruinen dort. Anders als Hitler es sich schon im Krieg ausmalte, ist dies nicht ein Wallfahrtsort für die zur Schaustellung des heroischen Kampfes Nazi-Deutschlands geworden. Nein, es ist ein Ort des Scheiterns, der Ignoranz gegenüber der Realität – ein Ort der deutlichen Niederlage. Aber natürlich auch ein Sinnbild für Zivilcourage und Widerstand – fest verbunden mit dem gescheiterten Attentatsversuch durch Claus Schenk Graf von Staufenberg.
Bohr lässt viele Zeitzeugen die zeitweise Trivialität des Alltags dort darstellen. Aber auch ihren Blick auf die durch den Diktator entstandene Atmosphäre einer immer herrschenden Angst. Wir erspüren ein Leben der Paladine und Untergebenen an diesem isolierten, hochgesicherten Ort.
Bohr betont aber auch von Beginn an, dass man mit den Darstellungen der Zeitzeugen sehr kritisch umgehen muss, handelt es sich doch im Allgemeinen um Personen, die später oft versuchten die NS-Zeit zu relativieren.
Den Wahnsinn greifbar machen
Der Begriff Führerhauptquartier wurde im Laufe der Zeit nicht nur für die verschiedenen Anlagen, sondern synonym für den gesamten Stab rund um Hitler, für die militärischen Treffen und Lagebesprechungen genutzt. Das Buch macht den Wahnsinn greifbar, die vielen Berichte über z.B. Hitlers verkehrstechnische Pläne, resultierend aus seinen Großmachtsfantasien für die Zeit nach „dem großen Sieg“. Oder, wenn der Hofstaat der Paladine stolz war, an der „Führertafel“ während der Teerunde sitzen zu dürfen.
„Vor dem Untergang“ ist ein durchweg gut recherchiertes, informatives und mitnehmendes Sachbuch. Sachlich, aber bei weitem nicht in seiner Sachlichkeit erstickend, wie so manches andere Werk dieses Genres. Umfangreich und detailliert ist auch die Darstellung des Aufbaus der Wolfsschanze (mit Lagekarten und historischen Fotomaterial), was somit hilft, die Funktion und Organisation sehr gut zu verstehen.
Gerade die Darstellungen der Zeitzeugen, wie Hitler auf sie wirkte, sind spannend und machen aus dem „Phänomen Hitler“ eine mehrdimensionale, sehr weltliche Person. Da bleibt kein Platz für Kult. Das Werk ist jetzt schon ein Highlight im Bereich der Sachbücher zum Nationalsozialismus und des 2. Weltkriegs in diesem Jahr. Ein Buch, das jedem geschichtsinteressierten Leser „mitnehmen“ wird.